Er kommt mir langsam schlendernd, leicht suchend entgegen, und als wir auf gleicher Höhe sind, verlangsamen wir beide das Tempo. Er suche das Haus 5, sagt er mir, und ich weise ihm mit einer Handbewegung den Weg, es sei nicht mehr weit, gleich da vorne, das übernächste Gebäude links.
Sein Gesicht kommt mir irgendwie bekannt vor und auch sein Dialekt weckt in mir eine Erinnerung. Ob wir uns womöglich schon einmal begegnet seien, frage ich, doch er kann sich nicht erinnern. Ich erkundige mich nach seinem Namen, ob er denn auch schon stationär im Inselspital gewesen sei?
Er sagt lange nichts, dann nickt er: «Ja, stationär, schon mehr als einmal und beim letzten Spitalaufenthalt, das offene Fenster, das leere Bett ...» Da fällt bei mir der Groschen. Ich wurde zu ihm gerufen im Rahmen eines Care-Einsatzes, nachdem sich ein Patient aus demselben Zimmer aus dem Fenster gestürzt hatte.
Jetzt schweigen wir beide. Er habe erst zu Hause richtig realisiert, was damals geschehen sei, und es habe ihn schon sehr beschäftigt. Ja, dass so etwas möglich sei in unserer Gesellschaft, dass einer einfach geht und die anderen es erst mitbekommen, wenn es zu spät ist. Er sei zu diesem Zeitpunkt selber sehr krank gewesen und habe kaum etwas von den anderen Patienten wahrgenommen.
Jetzt sei er auf dem Weg zur ambulanten Sprechstunde, er habe viele kleine Baustellen, aber kein Vergleich sei dies zu der grossen gesundheitlichen Bedrohung von damals. Der behandelnde Arzt habe zu ihm gesagt: «Es gibt im Leben zwei Wege: den hellen und den dunklen. Um den dunklen müssen Sie sich nicht kümmern, das übernehmen wir für Sie; zu diesem Wege gehören Symptome, Krankheitsbilder, Untersuchungen, Diagnoseerstellung, Therapievorschläge und Behandlungspläne.» Der helle Weg hingegen, das sei seine Aufgabe, da könne ihm kein Arzt behilflich sein und dies sei das Wichtige: «Jeden Tag immer wieder die helle Seite des Lebens zu finden.» Er habe sich diesen Rat zu Herzen genommen und orientiere sich daran. Deswegen sei er jetzt auch hier diesem Weg entlanggelaufen, habe das Auto absichtlich etwas weiter weg geparkt, um diesen Moment, die Wärme der Sonne und das Licht des Nachmittags auszukosten. Wir verabschieden uns – und ich gehe in Gedanken dieser Metapher entlang und denke an den Menschen, welcher, umgeben von Dunkelheit, nur noch einen Ausweg sah: den Sprung aus dem Fenster, den Fall in die Tiefe, das Ankommen im Licht.
Simone Bühler, Seelsorgerin Inselspital