Monika Dommann und Marietta Meier leiten das Forschungsprojekt zum Missbrauch in der katholischen Kirche. Zusammen mit ihrem Mitarbeiter Lucas Federer geben sie Einblicke in ihre Arbeit. Ein Gespräch über Geheimarchive, Aktenvernichtung und die Frage: Warum schaut die Kirche bei Missbrauch weg?
Annalena Müller, kath.ch
kath.ch: Wie gut kannten Sie die katholische Kirche und ihre Strukturen in der Schweiz vor Studienbeginn?
Monika Dommann*: Wir sind alle katholisch sozialisiert. In diesem Sinne bringen wir ein gewisses lebensweltliches und auch alltagshistorisches Wissen über die katholische Kirche mit.
Marietta Meier**: Inklusive der verschiedenen Lebensrealitäten. Monika stammt aus der katholischen Innerschweiz und ich aus der katholischen Diaspora in Aarau. Die anderen Mitglieder des Teams sind eine jüngere Generation und bringen nochmals andere Erfahrungen mit.
Die Studie birgt einige Herausforderungen – Sie müssen drei Sprachregionen berücksichtigen und darin wiederum unterschiedliche kirchliche Strukturen und Kulturen. Wie gelingt Ihnen das?
Lucas Federer***: Wir haben bewusst über Sprachgrenzen und Bistumsgrenzen hinweg gearbeitet. Die Bistumsstrukturen unterscheiden sich zum Teil erheblich. Daher war es wichtig, dass wir möglichst alle mit allen Strukturen in Kontakt kommen und uns regelmässig austauschen, um diese Unterschiede überhaupt erkennen und herausarbeiten zu können.
Was waren die grössten Herausforderungen, die Ihnen vor Ort begegnet sind?
Federer: Eine Hürde waren die unterschiedlichen Zustände der diözesanen Archive. Es gibt sehr professionell geführte Archive, zum Beispiel in Chur oder in Basel. Die Archive in anderen Bistümern, beispielsweise Lugano und Lausanne, Genf und Freiburg, sind bedeutend weniger strukturiert…
Hinsichtlich der Pilotstudie gibt es unterschiedliche Positionierungen und Kooperationsbereitschaften
Dommann: …man muss allerdings bedenken, dass Diözesanarchive keine öffentlichen Archive sind. Sie ähneln eher Archiven von Unternehmen, Familien oder dem Militär. Auch dort ist man auf die Kooperation der Archivare und Archivarinnen angewiesen, weil oft nur sie die Logik des Archivaufbaus kennen.
Wurden Sie überall mit offenen Armen empfangen?
Federer: Grundsätzlich können wir sagen, dass wir überall dort, wo man uns Zugang zugesagt hat, diesen auch erhalten haben. Auch wenn es nicht überall gleich reibungslos verlief.
Das heisst?
Federer: Wir haben durchaus gemerkt, dass es hinsichtlich der Pilotstudie unterschiedliche Positionierungen und Kooperationsbereitschaften gibt. Wir haben Zurückhaltung insbesondere bei kleineren geistlichen Gemeinschaften wahrgenommen. Aber diese hatten sich auch im Vorfeld nicht explizit dazu verpflichtet, uns Zugang zu ihren Archiven zu gewähren.
Wahrscheinlich hat nicht jeder oder jede eine genaue Vorstellung davon, mit welchen Informationen Sie arbeiten. Können Sie ein paar Einblicke geben?
Federer: Im Wesentlichen arbeiten wir mit Akten aus verschiedenen kirchlichen Archiven. Zusätzlich führen wir Gespräche mit Betroffenen, die sich an uns wenden – und auch künftig an uns wenden können. Was die Archive angeht, so haben wir für die Vorstudie vor allem mit den Archiven der diözesanen Fachgremien und mit Personalakten aus den sogenannten Geheimarchiven der Diözesen gearbeitet.
Bei der Schaffung des Erzbistum Vaduz wurden in einer Nacht und Nebelaktion Archivbestände nach Vaduz überführt.
Was ist ein Geheimarchiv?
Federer: Das Geheimarchiv ist eines von drei Archiven, die, laut Kirchenrecht, jedes Bistum führen muss. Erstens gibt es das Verwaltungsarchiv. Dort finden Dokumente Eingang, die bei der Verwaltung eines Bistums anfallen. Zweitens gibt es ein historisches Archiv. Und drittens das sogenannte Geheimarchiv. Im Geheimarchiv werden Dokumente zu Strafverfahren gegenüber Klerikern und kirchlichen Angestellten aufbewahrt. Das sind hauptsächlich, aber nicht nur, sogenannte Sittlichkeitsverfahren. Eine Besonderheit des Geheimarchivs ist, dass dort laut Vorschrift nur der Bischof Zugang haben darf.
Persönlich war ich besonders auf die Funde aus dem Geheimarchiv des Bistums Chur gespannt – das Bistum hatte in den 1980er und 90er-Jahren ja einige Skandale …
Federer: Das Geheimarchiv in Chur umfasst vergleichsweise viele Akten. Das Diözesanarchiv ist allgemein sehr gut strukturiert und in vielerlei Hinsicht lückenlos und professionell geführt. Einzige Ausnahme: Bei der Schaffung des Erzbistum Vaduz 1997 wurden in einer Nacht und Nebelaktion Archivbestände, inklusive der Personalakten, nach Vaduz überführt. Niemand in Chur konnte uns sagen, was genau mitgenommen wurde.
Haben Sie die Bestände in Vaduz einsehen können?
Meier: Nein. Aus Zeitgründen mussten wir uns in der Vorstudie auf Archive in der Schweiz beschränken. Bei der im Januar beginnenden Hauptstudie werden wir auch andere relevante Archive anfragen. Dazu gehören das Erzbistum Vaduz und der Vatikan, aber auch die Nuntiatur in Bern. Die Nuntiatur spielt als Mittlerin zwischen der Schweiz und Rom eine wichtige Rolle. Ob wir Zugang zu diesen Archiven bekommen, ist hingegen noch unklar.
Neben dem Zustand der Archive benennen Sie die Zerstörung von Personalakten aus Geheimarchiven als eine grosse Hürde für die historische Aufarbeitung. Was hat es damit auf sich?
Federer: Das Kirchenrecht schreibt vor, dass Personalakten aus dem Geheimarchiv nach einer gewissen Frist vernichtet werden müssen. Die Bistümer sind allerdings verpflichtet, vor der Vernichtung eine inhaltliche Zusammenfassung zu schreiben und diese aufzubewahren. In den Bistümern Lugano und Sitten ist eine solche Vernichtung nachzuweisen, wobei im Bistum Sitten zu jedem Fall eine Notiz vorhanden ist. In Lugano wissen wir, dass es zu Zerstörungen kam, ohne genau zu wissen, was vernichtet wurde.
Man kann gezielte Aktenvernichtung nicht ausschliessen.
Diese Vorschrift öffnet Tür und Tor für strategische Vernichtung von unliebsamen Akten...
Meier: Prinzipiell gibt es diese Vorgänge auch in staatlichen Archiven. Einfach, weil man nicht alles aufheben kann. Es ist schlicht eine Platzfrage. Wichtig ist, dass festgehalten wird, was vernichtet wird, um die sogenannte Kassation später nachvollziehen zu können. Gemäss kanonischem Recht muss bei Sittlichkeitsverbrechen eine Zusammenfassung der Tat und das Urteil festgehalten werden.
Ich hake nochmals nach – in Sitten und Lugano haben Sie Beweise für Vernichtungen gefunden. Zum Archiv Basel steht im Bericht, dass die Akten bis in die 1930er-Jahre zurückreichen – hier hat man also weniger vernichtet. Es bleiben die Bistümer St. Gallen, LGF und Chur. Gab es hier gezielte Aktenvernichtungen ohne, dass man schriftliche Zusammenfassungen angefertigt hätte?
Dommann: Es gibt dafür keine Belege. Aber man kann gezielte Aktenvernichtung nicht ausschliessen.
Meier: Wir haben viel über Bistumsdokumente gesprochen, aber wir arbeiten natürlich auch mit anderen Quellen. Die mündlichen Berichte von Betroffenen sind sehr wichtig für uns. Und auch die Betroffenen stellen uns Dokumente zur Verfügung. Wir stützen uns also nicht allein auf die Archive der Diözesen.
Missbrauchsfälle wurden verschwiegen und bagatellisiert.
Beim Lesen der Vorstudie fällt auf: Bistumsverantwortliche wussten im gesamten Untersuchungszeitraum um Missbrauchsfälle. Aber sie schritten nicht einmal dann ein, wenn eine strafrechtliche Verurteilung eines Priesters vorlag. Wieso haben die Bischöfe vertuscht?
Federer: Das ist eine komplexe Frage. Es gibt einerseits ein kirchliches Strafrecht, das den Umgang mit Fällen sexuellen Missbrauchs innerhalb der Kirche grundsätzlich regelt und die Bischöfe zum Handeln verpflichten würde. Aber das kirchliche Strafrecht kommt im gesamten 20. Jahrhundert quasi nicht zur Anwendung. Teilweise wird sogar explizit gesagt, dass man darauf verzichtet, ein kirchliches Strafverfahren anzustrengen, obwohl ein solches Verfahren vorgesehen wäre. Grundsätzlich verhielten sich alle Akteure in der Schweizer Kirche sehr ähnlich.
Nämlich?
Federer: Missbrauchsfälle wurden verschwiegen und bagatellisiert. Erst wenn die Anschuldigungen heftiger wurden und nur, wenn der öffentliche Druck stieg, wurden die Beschuldigten versetzt, womöglich in eine andere Gemeinde, in ein anderes Bistum oder ins Ausland. Wir vermuten, dass einerseits gesellschaftliche Gründe und andererseits katholische Spezifika dieses Handeln mitprägten.
Zum Beispiel?
Federer: Der Klerikalismus ist nicht zu unterschätzen. Also der Umstand, dass Kleriker andere Kleriker schützen. Auch die katholische Sexualmoral dürfte eine Rolle spielen, die das Sprechen über Sexualität beeinflusst. Vermutlich auch das komplexe Verhältnis der Kirche zur Homosexualität oder auch der Zölibat.
Dommann: Man darf auch schlicht die Macht einer Organisationsstruktur, die nach eingeübten und festen Traditionen funktioniert, nicht unterschätzen. Für diejenigen Personen, die innerhalb dieser Struktur und Kultur agieren und die in ihr grossgeworden sind, gibt es zunächst keinen Grund, Dinge, die «schon immer so waren» in Frage zu stellen.
Veränderungen in der Kirche kommt nur durch Druck von aussen.
Meier: Wir müssen daher auch die Frage stellen, was heute anders ist als früher. Also, was hat dazu geführt, dass sich diese Organisationsstruktur zu verändern begannen und die eingeübten Traditionen im 21. Jahrhundert langsam intern hinterfragt werden.
Was hat sich Ihrer Meinung nach verändert?
Meier: In unserem Bericht haben wir zwei Hauptfaktoren identifiziert. Veränderungen in der Kirche kommt nur durch Druck von aussen. Seit 2010 ist der Druck durch Betroffenenorganisationen und Medien auf kirchliche Verantwortungsträger stetig gewachsen. Ausserdem hat sich die Gesellschaft als Ganzes auch verändert. Sie ist heute in Bezug auf Missbrauch und Prävention sensibilisiert.
Sie beschreiben das Dilemma der Fachgremien, die in den Diözesen ab 2002 gegründet wurden. Der Fall in St. Gallen oder der aktuelle in Basel zeigen: Ohne den externen Druck durch Betroffenenorganisationen und Medien sind diese Gremien zahnlos. Warum fordern Sie in Ihren Empfehlungen keine Weisungsbefugnis für die Fachgremien gegenüber den Offizialaten oder dem Generalvikariat?
Meier: Wir haben die Empfehlungen am Ende der Vorstudie sehr eng und aus Perspektive der Hochschule formuliert. Unsere Leitfrage dabei war, welche Gegebenheiten braucht es, damit man künftig die Missbrauchsproblematik vollumfänglich aufarbeiten kann – auch für andere Disziplinen. Und da sind professionell geführte, unabhängige Archive und Aktenzugang zentral. Ebenso wichtig ist ein Ende der Aktenvernichtung.
Medien obliegt es, mit journalistischen Methoden zu recherchieren und Druck in der Öffentlichkeit aufzubauen.
Dommann: Wir sind als Forschungsteam auf gute Zusammenarbeit mit den Auftraggebern angewiesen. Unser Fokus ist daher Hartnäckigkeit in Bezug auf Quellenzugang. Medien haben eine andere Aufgabe.
Nämlich?
Dommann: Ihnen obliegt es, mit journalistischen Methoden zu recherchieren und Druck in der Öffentlichkeit aufzubauen. Den Wert dieser Arbeit lehrt uns die Geschichte von der Spotlight-Studie des Boston Globe bis zu den jüngsten Recherchen des «Beobachter» oder des «SonntagsBlick».
*Monika Dommann (57) ist Professorin. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt auf der Geschichte vom 19. bis zum 21. Jahrhundert.
**Marietta Meier (57) ist Titularprofessorin. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt auf der Geschichte vom 19. bis zum 21. Jahrhundert.
***Dr. Lucas Federer (33) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Teil des Forschungsteams zur Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche in der Schweiz.
Übergriff - was tun?
Anlaufstellen für Betroffene
Selbsthilfegruppe für Menschen, die sexuelle Gewalt im kirchlichen Umfeld erlebt haben
IG Missbrauchsbetroffene im kirchlichen Umfeld
Kirchliche Anlaufstellen
Opferhilfe Bern
Schweizerische Opferberatung