«Du stellst meine Füsse auf weiten Raum», lautet der Titel des neuen Hungertuchs. Foto: Dieter Härtl/Misereor.

«Verwandlung und Erlösung sind möglich»

Zum neuen Hungertuch der aktuellen Fastenkampagne

Das Hungertuch zur Fastenzeit 2021 zeigt das Röntgenbild eines gebrochenen Fusses. Der Bruch entstand bei einer Demonstration in Chile. Die Theologin Veronika Jehle (35) hat dazu für das Fastenopfer Meditationen verfasst.

Interview: Raphael Rauch, kath.ch

Da aktuelle Hungertuch irritiert mich. Wie kann ich mich ihm nähern?

Veronika Jehle*: Das Hungertuch mag auf den ersten Blick verwirrend sein, irritierend, komisch vielleicht sogar. Ich finde, es lohnt sich, sich mit den verschiedenen Ebenen vertraut zu machen und sich auf seine Botschaft einzulassen.

Mein erster Gedanke zum Hungertuch war: Ist das Kunst oder kann das weg? Dann habe ich erfahren, dass die Grundlage ein Röntgenbild ist – und einen Knochenbruch dokumentiert, der bei einer gewaltvollen Demonstration in Chile entstanden ist. Wie war das bei Ihnen?

Im Rückblick würde ich sagen, dass ich erst begonnen hab, etwas von dem Kunstwerk zu verstehen, als ich von diesem Röntgenbild und den Umständen gelesen habe.

Was am Hungertuch spricht Sie besonders an?

Die viele Leere. Die unbesetzte Nüchternheit. Wenige Farben, dafür ein starker Kontrast: diese fette schwarze Linie, der Fuss – im Kontrast zu feinen, liebevoll ausgestalteten Goldblumen.

Was hat es mit dem Gold auf sich?

In der Auseinandersetzung mit der Künstlerin Lilian Moreno Sánchez habe ich verstanden, dass sie immer wieder das Leiden thematisiert. Das Leiden der Menschen, der Menschheit, zu allen Zeiten, an allen Orten. Gleichzeitig zeigt sie aber auch, dass Wandel, Verwandlung und Erlösung möglich sind. Nicht umsonst heisst das Kunstwerk «Die Kraft des Wandels». Das Gold lese ich als Symbolfarbe für diese Potenz des Leidens.

Wie deuten Sie den Titel: «Du stellst meine Füsse auf weiten Raum»?

Der Titel des Hungertuchs ist ja zweiteilig: «Du stellst meine Füsse auf weiten Raum – Die Kraft des Wandels». Der erste Teil ist ein Zitat, der Vers 9 aus dem Psalm 31. Ob dieser nachträglich beigefügt wurde, um einen direkten biblischen Bezug herzustellen? So oder so finde ich den Vers stark, vor allem auch im Kontext des Psalms. Er passt zu diesem Kunstwerk und eröffnet noch einmal eine weitere Perspektive. Ich merke allerdings, dass er mich beim Schreiben der Meditationen weniger geleitet hat. Es lag mehr als genug Inspiration darin, einfach das Bild zu betrachten.

In einer Broschüre des Fastenopfers steht: «Weiten Raum und damit die Erfüllung der Psalmverheissung fordern Menschen auch an anderen Orten in der Welt.» Was ist damit gemeint?

Vielleicht, dass die Forderung nach Freiheit, Gleichberechtigung und nach Teilhabe an den Grundlagen für ein gutes Leben immer und überall eine menschliche Forderung war und ist? Chile, diese eine Demonstration, der spezifische Gewaltakt und das Röntgenbild stehen ja exemplarisch dafür.

Wo braucht die Kirche mehr Weite?

Im Zuhören und Reden. Im Handeln innerhalb und zum Wohl unserer eigenen Gemeinschaft. Mir scheint, nach aussen hin sind wir da besser aufgestellt als nach innen.

Sie haben für das Fastenopfer zum ersten Mal einen «lyrischen Gehversuch» unternommen, wie Sie selbst schreiben. Wie ging es Ihnen bei diesem Gehversuch?

Er hat mich gefordert. Er hat mir aber auch Spass gemacht, weil ich ja gerne mit Worten spiele und arbeite. Die Zusammenarbeit mit Andrea Gisler vom Fastenopfer und mit Jan Tschannen von Brot für alle, ihr Feedback und das gemeinsame Feilen an den Texten im «Ping-Pong» waren auch echt sehr wertvoll.

Seit Herbst sind Sie nicht mehr «Wort zum Sonntag»-Sprecherin. Vermissen Sie das Scheinwerferlicht?

Ich würde lügen, wenn ich einfach «Nein» sagen würde. Ich habe die Arbeit für das «Wort zum Sonntag» wirklich gern gemacht. Vor allem, weil ich auch da Menschen kennen gelernt habe, die einfach freimütig mit Freude und weitem Horizont bei der Sache waren.

* Die Theologin Veronika Jehle (35) arbeitet als Spitalseelsorgerin und Journalistin in Zürich. Einem grösseren Publikum wurde die Österreicherin als Sprecherein beim «Wort zum Sonntag» des Schweizer Fernsehens SRF bekannt.


Kunst aus Chile

Die Künstlerin des aktuellen Hungertuchs heisst Lilian Moreno Sánchez. Sie wurde 1968 in Buin/Chile geboren und hat Bildende Kunst in Santiago de Chile studiert. Mitte der 1990er-Jahre erhielt sie ein Stipendium in München. Seitdem lebt und arbeitet sie in Süddeutschland.
«Ihre Kunst kreist um Leid und dessen Überwindung durch Solidarität und verarbeitet die Erfahrungen während der chilenischen Militärdiktatur», schreibt das Fastenopfer. Informationen zum Hungertuch und die Lyrik von Veronika Jehle finden Sie hier. (rr)

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