Blick in eine ungewisse Zukunft: Im Zentrum Kappelen erhalten Asylsuchende oft den ersten Negativentscheid. (Symbolbild) Foto: Keystone/Gian Ehrenzeller

«Viele legen Menschlichkeit und Humor an den Tag»

Seelsorge im Bundesasylzentrum Kappelen

Irene Neubauer ist beeindruckt von der Würde, mit der Asylsuchende auch negative Entscheide entgegennehmen. Sie ist Seelsorgerin im Bundesasylzentrum Kappelen bei Lyss.

Interview: Sylvia Stam

«pfarrblatt»: Wie sieht Ihr Alltag aus?

Irene Neubauer: Ich weiss nie, was mich erwartet. Die Asylsuchenden werden meist sehr kurzfristig an einen anderen Ort transferiert. Es kann sein, dass ich eine intensive Begegnung hatte und diese Person die Woche darauf nicht mehr da ist. Umgekehrt kommen laufend neue Menschen ins Zentrum.

Wie kommt es zu den Gesprächen?

Wir gehen in den Aufenthaltsraum und begrüssen die Anwesenden. Manche kommen auf uns zu. Meine Leitschnur ist dabei ein Satz von Meister Eckehart: «Die wichtigste Stunde ist immer jetzt, die wichtigste Person ist immer die, die dir gegenüber ist, und das wichtigste Werk ist die Liebe.»

Das Bundesasylzentrum Kappelen ist ein Zentrum «ohne Verfahrensfunktion». Was bedeutet das?

Die meisten Personen bei uns wurden bereits in einem anderen Land des Dublin-Raums* registriert. Gemäss dem Dublin-Abkommen, das die Schweiz unterzeichnet hat, müssen sie dort Asyl beantragen. Sie werden also zurückgeschickt. Oft bekommen sie hier den ersten Negativentscheid. Und dann stellt sich die Frage: Akzeptieren sie diesen Entscheid oder ziehen sie ihn weiter?

Was ist Ihre Aufgabe darin?

Unsere Aufgabe ist es, diese schwierige Situation mit ihnen auszuhalten. Wir hören zu, sind Gegenüber. Ausserdem bauen wir Brücken zur Zivilgesellschaft ausserhalb des Zentrums, damit die Asylsuchenden Kontakte für Aktivitäten und Unterstützungsangebote finden können.

Erzählen Sie von einem konkreten Beispiel.

Kurz vor Weihnachten wurde ein junger Afghane nach Kroatien rückgeführt. Er hatte psychische Probleme. Wir haben zusammen mit anderen Organisationen versucht, dies zu verhindern. Aber es war nichts zu machen. Er wurde vorher in Ausschaffungshaft genommen, was sehr belastend war.

Sie wirken immer noch sehr betroffen. Wie gehen Sie mit solchen Situationen um?

Das ist mir ziemlich eingefahren. Es war Weihnachten, alle redeten von Menschlichkeit. Da fragte ich mich, ob es nicht Spielraum gegeben hätte für eine humanitäre Aufnahme. Ich hatte den Eindruck, dass man diesen jungen Mann einfach loshaben wollte.

Er wurde in Kroatien registriert. Wissen Asylsuchende nicht, wie das Dublin-System funktioniert?

Sie kennen das System, doch Kroatien empfinden viele als Sackgasse. Viele erzählen, dass sie sich nicht registrieren lassen wollten, aber die Polizei habe sie genötigt. Wer es schafft, ohne vorherige Registrierung in einem Dublin-Land in die Schweiz einzureisen, hat entweder viel Glück, genug Geld oder ist ausserordentlich clever, nirgends registriert worden zu sein.

Wie gehen die Betroffenen mit den negativen Entscheiden um?

Ich bin beeindruckt von der Würde, mit der diese Menschen so schwierigen Umständen standhalten. Viele legen dennoch herzliche Menschlichkeit, Zugewandtheit und Humor an den Tag. Darin sind sie mir ein Vorbild. Meine Tätigkeit ist zugleich herausfordernd und erfüllend.
Eine Frau bat mich einmal, der Kirche zu sagen, sie solle sich dafür einsetzen, dass sie als Asylsuchende als Menschen behandelt würden und nicht wie Pakete, die einfach herumgeschickt würden. Viele Asylsuchende haben ein positives Bild der Kirchen und setzen grosse Hoffnungen in sie.

Was für einen religiösen Hintergrund haben die Leute im Zentrum?

Die meisten einen muslimischen. Es gibt solche, die praktizierend sind, einzelne wollen Christ:innen werden oder sind es heimlich schon. Andere sagen klar, sie hätten mit dem Islam abgeschlossen und seien nun humanistisch oder atheistisch. Ich habe schon Moscheebesuche oder Kontakte zu Kirchen organisiert. Einzelne habe ich auf die Freidenker:innen hingewiesen. Diese engagieren sich für Asylsuchende, die bedroht sind, weil sie nicht mehr religiös sind.  

Inwiefern ist Religion bei den Gläubigen eine Ressource?

Das ist eine grosse Ressource. Kürzlich hat eine Familie nach Erhalt des negativen Asylentscheids gesagt: «Gott weiss, welches der beste Platz für uns ist.» Sie sind mit diesem Gottvertrauen freiwillig in das Land der Erstregistrierung zurückgegangen. Ein christliches Paar sagte: «Gott wird uns helfen.»

Aktuell kommen viele Flüchtlinge aus der Ukraine, diese müssen kein Verfahren durchlaufen. Wie gehen die Asylsuchenden, die Sie betreuen, damit um?

Ich bin erstaunt, wie verhalten die Reaktionen sind. Sie begrüssen den Schutzstatus, aber sie verstehen nicht, weshalb er nicht auch für sie gilt.  

* Der Dublin-Raum umfasst alle EU-Mitgliedstaaten sowie die Schweiz, Norwegen, Island und das Fürstentum Liechtenstein.

Infobox:Das Bundesasylzentrum Kappelen bei Lyss kann 270 Personen aufnehmen, zurzeit kommen diese vor allem aus Afghanistan, Syrien, dem Irak. Die Mehrheit sind Männer, im Schnitt um die 30 Jahre alt. Sie bleiben maximal 140 Tage. Innerhalb dieser Zeit fällt der Entscheid, ob sie zurückmüssen oder vorläufig aufgenommen werden. Die Asylseelsorge teilen sich drei Personen, zwei mit christlichem, eine mit muslimischem Hintergrund. Die Seelsorge in den Bundesasylzentren der Schweiz wird getragen von den drei Landeskirchen und dem Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund.

 

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