Wenn sich Missbrauch auf die Bibel beruft. Foto: Nadine Shaabana, unsplash.com

Biblische Texte können Gefahren bergen

Wie biblische Texte Missbrauchstäter:innen in die Hand spielen

Die Bibel stellt Menschen als Vorbilder dar, die sich Gott rückhaltlos hingeben. Doch solche Bilder können den Nährboden für sexuelle Übergriffe legen.  

von Doris Reisinger

Wenn bibelwissenschaftlich zu sexuellem Missbrauch gearbeitet wird, stehen oft Texte im Vordergrund, in denen es um sexuelle Handlungen geht.(1) Für sexuelle Übergriffe spielen allerdings oft andere Texte eine Schlüsselrolle. Dazu gehören auf den ersten Blick unverdächtige Bibelstellen, in denen von der Grösse und grenzenlosen Liebe Gottes zu den Menschen die Rede ist …

Tatanbahnung: Aushebelung von Selbstbestimmung

In der Prävention von sexuellem Missbrauch spielt sexuelle Selbstbestimmung eine grundlegende Rolle. Selbstbestimmung kann vermittelt, erlernt und genauso verhindert und verlernt werden. Gerade Kinder, Jugendliche und Erwachsene in vulnerablen Situationen müssen um ihr Selbstbestimmungsrecht wissen: Das gilt insbesondere für Intimbereiche. Hier dürfen sie Grenzen setzen und diese Grenzen müssen von anderen respektiert werden.

Wenn Missbrauchstäter:innen versuchen, diese Grenzen zu überwinden, geschieht das meistens nicht mit offener Gewalt, sondern indem sie Opfer davon überzeugen, dass das, was geschieht, eigentlich keine Verletzung ihrer Selbstbestimmung wäre (Verschleierungsstrategien) oder dass sie kein Recht auf Selbstbestimmung hätten (Demütigungsstrategien). Sowohl das Gefühl des Opfers, im Angesicht eines übermächtigen Täters, einer übermächtigen Täter:in klein, schlecht und wertlos zu sein, als auch das Gefühl radikalen Vertrauens zum Täter/zur Täter:in senken die Wehrhaftigkeit des Opfers und können das Gefühl für sein Recht auf Selbstbestimmung und die Fähigkeit, dieses Recht zu verteidigen, ganz aushebeln.

In säkularen (und kirchlichen) Kontexten funktionieren beide Strategien auch ohne biblische Bezüge. Beispielsweise indem Opfer glauben gemacht werden, der Übergriff wäre Teil einer Liebesbeziehung oder einer medizinischen Behandlung. Oder indem Opfer glauben gemacht werden, sie wären im Vergleich mit dem Täter wertlos oder hätten es nicht anders verdient. In kirchlichen Kontexten spielen zudem exegetische und hermeneutische Traditionen bestimmter Bibelstellen eine wichtige Rolle in der Tatanbahnung.

Ein überwältigender Gott

Das biblische Gott-Mensch-Verhältnis ist durchzogen von Dynamiken der Überwältigung, in denen Menschen für Selbstbestimmung und das Setzen von Grenzen anscheinend nicht viel Raum bleibt. Die Bibel stellt uns durchgehend Menschen als Vorbilder vor Augen, die sich Gott rückhaltlos hingeben. Sie nehmen um Gottes willen enormen Verzicht und Risiken auf sich, ertragen unvorstellbares Leiden und werden am Ende dafür belohnt und von biblischen Texten gelobt. Dagegen werden Menschen, die sich solchen Zumutungen lieber verweigern, die lieber auf ihren eigenen Wegen gehen und ihren eigenen Willen tun, von biblischen Texten verurteilt.

Es gibt zwar auch Texte, die es biblischen Figuren erlauben, Gott Widerrede zu leisten (Gen 18,23–33; Ijob 3). Zudem können einzelnen Texten durch eine sorgfältige Einordnung und Exegese bestimmte dunkle Seiten genommen werden. Aber es bleiben eine Vielzahl biblischer Texte, die so etwas wie ein unbegrenztes Zugriffsrecht Gottes auf den Menschen betonen: Menschen können und dürfen Gott keine Grenzen setzen. Vor Gott gibt es keine Privat- oder Intimsphäre für Menschen. Er durchschaut unsere Gedanken, kennt uns besser als wir uns selbst und es ist unmöglich, sich vor ihm zu verstecken (Ps 139).

Gott weiss alles, auch die Dinge, die Menschen unangenehm sind, und hält sie Menschen auf eine nach menschlichem Ermessen übergriffige und schmerzhafte Art und Weise vor (Gen 3,9; 2 Sam 12,7–12; Joh 4,18). Wenn Gott etwas von einer Person will, darf diese sich Gott nicht entziehen (Jona 1–2). Sich wehren, und lieber dem eigenen menschlichen Willen folgen, ist nicht nur zwecklos, sondern unverschämt und wird von Gott bestraft (Jer 18,1–17). Auch wenn Gottes Wille für einen Menschen rätselhaft und furchtbar ist, ist es das Beste und sogar sehr beglückend, alle Abwehr fallen zu lassen und sich Gott zu ergeben (Jer 20,7–18). Gottes Liebe ist so stark, mächtig, erfüllend und unhinterfragbar, dass sie alles fordern kann und Menschen sich ihr dennoch nicht entziehen, sondern sogar glücklich sind, für Gott leiden zu dürfen (Apg 5,41).

Massloses Vertrauen

Die Aufforderung, sich rückhaltlos Gottes Führung zu überlassen, dient im biblischen Kontext natürlich nicht dazu, Menschen zu quälen, im Gegenteil: Sie dient dazu die absolute Treue Gottes gegenüber den Menschen zu unterstreichen: Nur weil Gottes Liebe zu uns masslos ist, ist Gott gegenüber massloses Vertrauen angebracht. Auch und gerade dann, wenn Gottes Wege unheimlich scheinen und ein gutes Ende nach menschlichem Ermessen ausgeschlossen ist. Wenn dieses gute Ende sich dann wider menschliche Logik einstellt, ist der biblische Jubel gross (Ex 15,1–21).

Die Grösse Gottes, die Grösse der Verletzlichkeit von Menschen, die sich rückhaltlos in seine Hand begeben, und die Grösse der Gnade, die diese Menschen schliesslich erleben dürfen, stehen in direktem Verhältnis zueinander. Die menschliche Verletzlichkeit, von der in den genannten biblischen Erzählungen die Rede ist, darf daher nicht von ihrem Bezug zur Grösse Gottes und zur Grösse des künftigen Heils losgelöst werden.

Missbrauchte Verletzlichkeit

Menschen, die christlich sozialisiert sind, kennen diese Narrative des masslosen Gottvertrauens. Daher bauen Täter:innen gerne auf ihnen auf. Sie übernehmen die Position eines Repräsentanten Gottes, um ihre Opfer in eine Position maximaler Verletzlichkeit und Abhängigkeit zu bringen, die – ganz biblisch – mit Verheissungen verknüpft und als beglückend und befreiend dargestellt wird.

Ebenso wie Gott in der Bibel treten sie auf, als hätten sie Einblick in und Anspruch auf das Leben ihrer Opfer. Sie geben vor, zu wissen, was ihr Opfer tun muss. Sie versprechen eine tiefe Erfüllung, inneren Frieden, Heiligkeit und vieles mehr. Dabei verlangen sie rückhaltlose Gefolgschaft und umfassende Hingabe. Angeblich nur im besten Interesse ihrer Opfer. Die Worte des Täters, der Täter:in in Frage zu stellen, würde bedeuten, an Gott zu zweifeln und alle Verheissungen aufs Spiel zu setzen, die an seine Worte geknüpft sind. Die Verletzlichkeit des Opfers ist in einem solchen Setting genauso gross wie die Unangreifbarkeit des Täters/der Täter:in. Mit Verweis auf die Bedeutung grenzenlosen Vertrauens für die Erfüllung der Verheissungen kann er/sie schliesslich auch sexuellen Missbrauch rechtfertigen, wie sich anhand zahlloser Tatverläufe zeigen lässt.

Beispielsweise zitiert das Livre Noir der Communauté Saint Jean eine Betroffene mit den Worten, der Täter habe «mein Gehirn, mein Herz, meine Seele, meinen Geist und meinen Körper in seinen Händen» gehabt. Sie beschreibt, wie sie zaghaft immer wieder versuchte, sich zu wehren, und wie ihr Täter auf ihre Zweifel reagiert. Dabei zeigt sich klar das vom biblischen Motiv des grenzenlosen Vertrauens gestützte Machtgefälle zwischen dem aus einer Position göttlicher Übermacht sprechenden Täter und seinem vermeintlich unerleuchteten und der Belehrung bedürftigen Opfer:

«Er nimmt immer wieder meine Hände, die ich zu zaghaft zurückziehe, um sie unter sein Gewand und dann auf seinen Hintern zu schieben und sich zu streicheln.

‹Wir müssen reden, Vater. ›

Er flüstert mir ins Ohr: ‹Nein. Nicht wir. Wir brauchen keine Worte mehr.›

‹Aber ich weiss nicht, ob ich will …›

‹Schscht! In der wahren Liebe haben wir die gleichen Wünsche.›

Das war die ganze Lehre des Gründers. Die Wahrheit. Wer bin ich, um mich ihr zu widersetzen? Ich muss es wollen. Folgsamkeit. Sich von Grösserem als sich selbst führen lassen, in der Abhängigkeit, die frei macht. Nicht in den kritischen Geist gehen; das würde bedeuten, das Werk des Diabolos zu tun. Die Liebe übersteigt die Intelligenz.

Man braucht nichts anderes als die Gedanken des Vaters (= Gründers): Alles wird durch seinen Mund gesagt. Alles kommt direkt vom Heiligen Geist zu ihm. Er ist wie Johannes, der Jünger, den Jesus liebt und dem Jesus alle Geheimnisse seines Herzens erzählt.» (2)

Tatverschleierung durch Bibeltexte

Bisweilen nutzen Täter:innen auch konkrete biblische Texte wie eine andere Betroffene schildert: «Die Zärtlichkeiten, die der Priester von mir verlangte, hat er gedeutet als Erweis der Liebe Jesu zu ihm, umgekehrt seine körperlichen Annäherungen als Zeichen der Liebe Jesu zu mir (…) Über die Interpretation von Bibelstellen (…) hat er mir immer wieder Gehorsam gegenüber Gott und Jesus abverlangt, und ich war ihm rettungslos innerlich und äusserlich ausgeliefert. Es gab kein Entrinnen.» (3)

Der US-amerikanische Priester Robert Meffan nutzte die biblische Brautmetapher. Er rekrutierte junge Mädchen für das Ordensleben und sagte den neu gewonnenen «Bräuten» Christi, dass die biblische Rede von Brautschaft nicht metaphorisch gemeint sei, sondern er als «alter Christus» die Aufgabe habe, sie durch sexuelle Handlungen tiefer in das geistliche Leben einzuführen. Wie manche anderen Missbrauchstäter auch, war Meffan selbst von dieser Mission vollkommen überzeugt und kommentierte sie mit den Worten: «Ich hatte das Gefühl, dass dieses kleine bisschen Intimität mit ihnen das Gleiche wäre wie mit Christus … Ich habe versucht, sie dazu zu bringen, Christus noch inniger und enger zu lieben. Für mich waren sie einfach wunderbare, wunderbare junge Menschen. Es war eine sehr schöne, wie ich fand, schöne, geistliche Beziehung, die körperlich und sexuell war.» (4)

Ohnmacht und Verletzlichkeit als Gebot?

Viel häufiger spielen biblische Bezüge aber eine indirekte Rolle: Radikale Selbstlosigkeit und Selbstverleugnung kann in christlich geprägten Kontexten eine so dominante Maxime sein, dass sie von Täter:innen als Grundlage für eine Demütigungsstrategie genutzt werden kann. Wer in solchen Kontexten lebt, hat verinnerlicht, dass es kein Recht auf Selbstbestimmung oder auf das Ziehen persönlicher Grenzen gibt:

«Ausserdem hatte ich nie gelernt, selbst zu denken und meine Gefühle wahrzunehmen und ernst zu nehmen und zu spüren, was ich möchte und etwas, was mir nicht recht ist, auch zu verweigern»,  schreibt eine Betroffene über sich selbst. (5)

Dabei sind nicht nur von Verboten, Unterdrückung und Demütigungen getragene Selbstbilder von Opfern (und die zu ihrer Unterstützung verwendeten Bibeltexte) zu berücksichtigen, sondern ebenso sehr solche, die auf das Ideal grenzenlosen Gottvertrauens trotz aller Widrigkeiten setzen. Durch sie wird das Recht auf eigene Grenzen quasi durch die Hintertür ausgehebelt. Zu den Bibeltexten, die in diesem Sinn genutzt werden können, gehören beispielsweise Mt 5,1–12 oder 1 Kor 13. Wenn sie so gelesen werden, dass Verletzlichkeit zur Lebensmaxime und das Setzen von persönlichen Grenzen zur Sünde werden, können sie die Selbstbestimmung und das Selbstbewusstsein von Betroffenen sogar besonders wirksam untergraben, weil die Schönheit, Sprachgewalt und der Verheissungscharakter dieser Texte die Gefährlichkeit der Lesart verschleiert.

Wie ist mit diesen Texten in der Praxis umzugehen?

Lesarten und Interpretationslinien, die den verstörenden Anteil dieser Texte wegerklären, erscheinen nur bedingt hilfreich. Sie können Missbrauchstäter:innen, die biblische Texte in der Tatanbahnung nutzen, sogar stärken, weil sie einen willkommenen Anknüpfungspunkt für die Behauptung bieten, die Radikalität der biblischen Botschaft würde von Theologie und Kirchen zu sehr «weichgespült» (und der/die Täter:in würde dagegen die echte biblische Botschaft vertreten). Auch Lesarten, die sich in Plattitüden über die Selbstbezogenheit des modernen Menschen ergehen, der vor den Anforderungen der biblischen Botschaft zurückschrecke, sind wenig hilfreich, weil sie mehr oder weniger direkt die Verletzlichkeiten und damit die Missbrauchbarkeit von Menschen befördern.

Ratsam erscheint dagegen ein Umgang mit diesen Texten, der erstens die extreme Verletzlichkeit biblischer Figuren konsequent in Verbindung zur Grösse Gottes und seines Heilsversprechens stellt; und der zweitens die Missbrauchbarkeit und Gefährlichkeit dieser Macht-Ohnmacht-Dynamik sachlich und offen thematisiert. Wie immer und überall, wo mit Gefahrgut umgegangen wird, gilt auch im Umgang mit gefährlichen biblischen Texten: Wer sie auslegt und in pastoralen Zusammenhängen verwendet, hat dafür zu sorgen, dass möglichst niemand durch sie zu Schaden kommt.

*Doris Reisinger ist Philosophin und Theologin. Als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Katholische Theologie der Goethe-Universität in Frankfurt am Main forscht sie zu Spiritualität sowie zu spirituellem und sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche. Für ihr Engagement im Kampf gegen Missbrauch erhielt sie 2021 den Herbert Haag-Preis.

Dieser Beitrag erschien zuerst in Bibel und Kirche 1/2023, Katholisches Bibelwerk e.V., Stuttgart 2023, bibelwerk.de


Lesen dazu auch: Von der Verharmlosung in Übersetzungen
 

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(1) Im Fokus stehen die Geschichten von Tamar, Batseba und anderen Frauen aus dem Hause David oder auch die Figur der »Hure Babylon«: Ilse Müllner, Gewalt im Hause Davids. Die Erzählung von Tamar und Amnon (2 Sam 13, 1–22) (Herders biblische Studien 13), Freiburg/New York 1997. Barbara Thiede, Rape Culture in the House of David. A Company of Men (Rape Culture, Religion and the Bible), Abingdon/New York 2022. Judith König, »The ›Great Whore‹ of Babylon (Rev 17) as a Non-Survivor of Sexual Abuse«, in: Religions 13, Nr. 3 (21. März 2022), 267, https://doi.org/10.3390/rel13030267

(2) AVREF, L’ombre de l’aigle. Le livre noir de la Communauté Saint Jean. Nouvelle edition: 14 janvier 2021, 39. Abrufbar unter: https://avref.fr/fichiers/Livre%20Noir%20St%20Jean%2014%20JANVIER%202021.pdf (zuletzt abgerufen am 22.05.2022)

(3) Katharina Hoff (Pseudonym), Das alles im Namen Gottes, in: Barbara Haslbeck u. a. (Hg.), Erzählen als Widerstand: Berichte über spirituellen und sexuellen Missbrauch an erwachsenen Frauen in der katholischen Kirche, Freiburg/ New York 2021, 103–108, 105.

(4) Rosemary Sullivan, «Rape Culture in Holy Spaces. Child Sexual Abuse by Clergy», in: Dies. u. a. (Hg.), Gender Violence. Interdisciplinary Perspectives, New York 32020, 335.

(5) Cornelia Berra (Pseudonym), Immer noch auf dem Weg zu mir selbst, in: Erzählen als Widerstand, 49–54, 50.

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