Eine religiöse Neuorientierung ist herausfordernd. Foto: Javier Allegue Barros, unsplash.com

Von Leere und Macht zu Lehre und Liebe

Menschen erzählen von ihrem Glaubenswechsel

Wer seinen Glauben wechselt, stösst auf Herausforderungen. Ein Bahá’í, eine Jüdin und ein Katholik erzählen am 24. Mai im Haus der Religionen über ihre Motive, ihre Erfahrungen und die verschiedenen Facetten dieser Freiheit. Andreas Bretscher (Bahá’í) und Gilbert Schuppli (Katholik) geben hier einen ersten Einblick.

von Hannah Einhaus

 

Im Haus der Religionen ist Andreas Bretscher (72) kein Unbekannter: Acht Jahre lang vertrat er die Bahá’í-Gemeinschaft im Vorstand, seit über 40 Jahren ist er ein aktives Mitglied in Bern und Luzern. 1981 legte er mit 30 Jahren das Bahá’í-Bekenntnis ab und ist seither Teil der in der Schweiz ca. 1200 Personen umfassenden Gemeinde.

Andreas Bretscher, der Ende der1960er- und Anfang der 1970er-Jahre nach Sinn im Leben suchte und Fragen stellte, fand keine befriedigenden Antworten von christlicher Seite. Die Suche habe er damals aufgegeben – bis zu jenem Tag im Jahr 1978, als er im Luzerner Begegnungszentrum Regenbogen drei Personen der Bahá’í-Gemeinschaft begegnete. «Da war ich 27 und hatte gerade mit meiner Ausbildung zum Sozialpädagogen begonnen», erzählt er.

So habe er die Bahá’í-Gemeinschaft in Luzern kennengelernt, Vorträge gehört, Bücher gelesen und Spiritualität erfahren. «Die Verbindung von Religion und Wissenschaft sowie die Werte von Frieden und Einigkeit der Menschen führten 1981 zu meinem Schritt, das Glaubensbekenntnis der Bahá’í abzulegen und der Gemeinschaft beizutreten.»

Lehre der Einheit und des Friedens

Beim Eintritt in die Bahá’í-Gemeinschaft anerkenne man den Religionsgründer Baha’ullah (1817–1892) als Gottesbote für dieses Zeitalter. Gemäss seiner Universallehre soll die Religion «das Wohl des Menschengeschlechts sichern, seine Einheit fördern und den Geist der Liebe und Verbundenheit unter den Menschen pflegen». Die Lehren wollen die Harmonie zwischen Religion und Wissenschaft anstreben, die Gleichstellung der Geschlechter fördern und eine friedvolle Gesellschaft ermöglichen.

In seinem Alltag integriert Andreas Bretscher ein Pflichtgebet sowie die Lektüre in den heiligen Schriften jeweils morgens und abends. Alle 19 Tage – ein Monat im Bahá’í-Kalender – besammelt sich die Gemeinschaft zu Andacht, Beratung und Geselligkeit. Lange Jahre war Andreas Bretscher Mitglied des sogenannten Geistigen Rats. Dies ist das neunköpfige Gremium einer Bahá’í-Gemeinde, das sowohl die spirituelle als auch die organisatorische und soziale Leitung übernimmt.

Auf Ablehnung im Umfeld sei er mit seinem Wechsel zur Bahá’í-Gemeinschaft eigentlich nie gestossen, erinnert sich Andreas Bretscher. In der Familie reagierten manche mit Interesse, einzelne mit Skepsis. Nicht nur für ihn persönlich, sondern auch für den Religionsstifter darf ein Beitritt zur Gemeinschaft nur aus freien Stücken, niemals aus Zwang geschehen. Die Schriften sagen: «Die Religion sollte alle Herzen vereinen und Krieg und Streitigkeiten auf der Erde vergehen lassen, Geistigkeit hervorrufen und jedem Herzen Licht und Leben bringen. Wenn die Religion zur Ursache von Abneigung, Hass und Spaltung wird, so wäre es besser, ohne sie zu sein.»

Als Katholik auf Umwegen wieder zum Katholiken

Während seiner Priesterausbildung in Fribourg in den 1980er-Jahren herrschte Aufbruchstimmung. «Wir waren inspiriert von den Befreiungstheologen wie Gustavo Gutiérrez, Oscar Romero und Leonardo Boff», erinnert sich Gilbert Schuppli (60). Der gebürtige Walliser arbeitet seit 1993 im solothurnischen Langendorf als katholischer Seelsorger im ersten ökumenischen Zentrum der Schweiz. Während des Studiums unter progressiven Kommilitonen war das ferne Rom kein Problem.

Nach Fribourg kam er jedoch an einen Punkt, die katholische Kirche zu verlassen: «Die aufgeklärte Stimmung am Priesterseminar und der reale Alltag während des Pastoraljahres in einer römisch-katholischen Pfarrei waren zwei Welten», erklärt er. Während eines Forschungsjahrs habe er 1992 im protestantischen Bern ernsthaft an einen Konfessionswechsel gedacht. «Ich wollte beides, mehr Intellekt wie im Protestantismus, aber auch Bauch und Rituale wie im Katholizismus», erinnert er sich. Für ihn, der inzwischen mit einer Partnerin zusammenlebte, war das Zölibat keine Option.

«Mit einem Übertritt zum Protestantismus waren jedoch so viele Auflagen verbunden, dass ich mich schliesslich beschloss, mir auf katholischer Seite eine Nische mit mehr Freiheiten für die Lebensgestaltung zu suchen.» Er verzichtete auf die Priesterweihe, die mit dem Zölibat verbunden gewesen wäre und wurde vor 30 Jahren Jugendseelsorger im solothurnischen Kirchgemeindekreis, wo er bis heute auch überkonfessionellen Religionsunterricht erteilte. Seit 2015 wirkt er als Seelsorger im ökumenischen Kirchenzentrum. «Hier kann ich nun die positiven Seiten beider Konfessionen pflegen.»

Ein Hoffnungsschimmer in Rom ist für ihn heute Papst Franziskus: «Er gibt der Kirche von unten mehr Raum.» Das Rom, das er einst kennenlernte, war geprägt von einem teilweise beklemmenden Machtgefälle. Als Kind in Sion war er hingegen bei einem Ortspfarrer aufgewachsen, der Liebe statt Moral predigte und mit seiner bescheidenen Lebensweise ein anderes Bild von Jesus vermittelte als die römische Kurie. Mit seinem Grossvater sei er zudem viel in der Natur und in den Bergen gewesen und habe dort das Göttliche in der Schöpfung entdeckt. Mit dem Himmel befasste er sich auch während seiner Flugzeugmechanikerlehre auf dem Militärflugplatz in Sion.

Mit dem gläubigen, aber liberalen Elternhaus, dem Ortspfarrer und den Naturgewalten kam der junge Gilbert Schuppli zum Schluss: «Es lohnt sich, sich für die Ideen von Jesus Christus einzusetzen.» Studium und Praxis zeigten, dass ihm der Kontakt mit den Menschen und deren Mitbeteiligung an einer Kirche von unten wesentlich wichtiger waren und sind als das römische Dogma und die priesterliche Weihe. Und so hat er bis heute seinen Wirkungskreis als katholischer Seelsorger im ökumenischen Umfeld gefunden.

Neben Andreas Bretscher und Gilbert Schuppli wird am Mittwoch, den 24. Mai, auch Andrea Abraham von der Jüdischen Gemeinde Bern mit von der Partie sein und über ihre Erfahrungen und Motive des Übertritts berichten. Unter der Leitung der Kulturverantwortlichen Noëmi Knoch unterhalten sich die drei im Haus der Religionen um 19 Uhr über die «Freiheit, die Religion oder Konfession zu wechseln».


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