Die Johannespassion von Bach tradiere antisemitische Clichés. Die Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen im Kanton Bern rät daher zum achtsamen Umgang damit am Karfreitag.
Sylvia Stam
Das Thema ist keineswegs neu. Doch es bekommt in Anbetracht der jüngsten Messerattacke auf einen Juden in Zürich neue Aktualität: Die Verantwortung christlicher Kirchen für Antisemitismus und Verfolgung von Jüdinnen und Juden. Namentlich in den Evangelien, die jeweils am Karfreitag gelesen werden, wird je nach Formulierung dem jüdischen Volk pauschal die Schuld am Tod Jesu in die Schuhe geschoben.
Aus diesem Grund hat die Arbeitsgemeinschaft der Kirchen im Kanton Bern (AKB) zusammen mit der Christlich-Jüdischen Arbeitsgemeinschaft Bern einen Karfreitagsbrief publiziert. Darin appellieren sie an alle Seelsorgenden, «in Ihrem Wirken die Botschaft der Bibel sorgfältig zu verkündigen und dabei nicht in antijudaistische oder antisemitische Stereotypen zu verfallen».
Der Begriff «die Juden» im Johannesevangelium
Auf Nachfrage erklärt Peter Sladkovic, Gemeindeleiter in der Pfarrei Worb und Erstunterzeichner des Appells, es gehe hauptsächlich um Passagen aus dem Johannesevangelium. Laut der Einheitsübersetzung (2016) antwortet Jesus beispielsweise dem römischen Statthalter Pilatus (Joh 18,36): «Wenn mein Königtum von dieser Welt wäre, würden meine Leute kämpfen, damit ich den Juden nicht ausgeliefert würde.»
In Joh 19,6f heisst es: «Pilatus sagte zu ihnen: Nehmt ihr ihn und kreuzigt ihn! Denn ich finde keine Schuld an ihm. Die Juden entgegneten ihm: Wir haben ein Gesetz und nach dem Gesetz muss er sterben, weil er sich zum Sohn Gottes gemacht hat.»
In solchen Passagen würden die Juden und Jüdinnen «undifferenziert als Schuldige für die Ermordung Jesu dargestellt», erläutert Sladkovic auf Anfrage des «pfarrblatt».
50-jährige Richtlinien sind wenig bekannt
In ihrem Beitrag für das «Forum Kirche» erklärt Christiane Faschon, langjährige Generalsekretärin der Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen in der Schweiz, woher diese Pauschalvorwürfe kommen. Die Formulierungen seien der politischen Situation zur Zeit der Niederschrift der Evangelien (40 bis 70 n. Chr) geschuldet: «Jerusalem war zerstört, die christlichen Gemeinden setzten sich nun von ihrer jüdischen Herkunft ab und versuchten, Konflikten mit den Römern auszuweichen.»
Kirchliche Empfehlungen, wie man solche Formulierungen vermeiden kann, gibt es laut Faschon schon seit 1974: Der Ausdruck «die Juden» sei bei Johannes besser mit «die Führer der Juden» oder «die Feinde Jesu» zu übertragen, «wobei der Anschein zu vermeiden ist, als sei hier das jüdische Volk als solches gemeint», zitiert Faschon aus den Vatikanischen Richtlinien zur Konzilserklärung «Nostra aetate». In ihrem Beitrag erwähnt sie jedoch auch, dass diese Richtlinien selbst Liturgiewissenschaftler:innen kaum bekannt seien, das Liturgische Institut der Schweiz habe sie nicht auf seiner Website aufgeführt.
Johannespassion von Bach
In der Pfarrei St. Martin in Worb jedenfalls werden die obigen Passagen anders gelesen: «Wenn mein Königtum von dieser Welt wäre, würden meine Leute kämpfen, damit ich den andern nicht ausgeliefert würde.» In der zweiten Passage heisst es schlicht «Sie entgegneten ihm», wobei sich dieses auf die vorangehenden Subjekte «die Hohepriester und die Diener» bezieht.
Doch die Johannespassion wird bekanntlich nicht nur vorgelesen, sondern auch gesungen, etwa in der Vertonung von Bach, die dieses Jahr in der reformierten Kirche Worb aufgeführt wird. «Beim Singen spielt das nicht so eine grosse Rolle, weil der Text nicht so deutlich ist», so Sladkovic. In den gesprochenen Passagen werde der Begriff «die Juden» ersetzt.
Der Appell wurde inzwischen von rund 80 Personen unterzeichnet (Stand 28.3.,16 Uhr), darunter der Basler Bischof Felix Gmür, sein Generalvikar Markus Thürig, die Berner Seelsorger/innen Angela Büchel Sladkovic, Ruedi Heim, Patrick Schafer, André Flury und Christine Vollmer. Anne Durrer, Generalsekretärin der AGCK, hat ebenso unterzeichnet wie die Präsidentin des Synodalrates der Kirchen Bern-Jura-Solothurn, Judith Pörksen Roder, und Daniel Kosch, langjähriger Generalsekretär der Römisch-Katholischen Zentralkonferenz. Weitere Unterschriften nimmt christoph.knoch@pfarrverein.ch entgegen.
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