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Warum?

Kolumne aus der Inselspitalseelsorge

«Schon bald werde ich 90 Jahre alt», sagt die Patientin unmittelbar nachdem wir uns einander mit Namen vorge­stellt haben. Sie sei bedrückt, traurig, depressiv, habe geäussert, sich mit «Hilfe» von Exit aus dem Leben zu verabschieden, hatte die Pflegefach­frau am Telefon gesagt, und weiter: «Geh einmal vorbei und sprich mit ihr, das wird ihr guttun!»

Mit vielen Informationen über sie und der Altersangabe von ihr selber sitze ich einer rüstigen Frau mit kaum ergrauten Haaren und wachen Augen gegenüber, die mich anlächelt. Dieses Bild passt so gar nicht zu den Infor­mationen, die ich von «der Pflege» erhalten habe, und irritiert mich ent­sprechend. Deshalb frage ich nach: Warum sie traurig sei, warum sie nicht mehr leben möchte, warum sie so oft weine? Irgendwann fragt die Patientin, warum ich das alles wissen wolle? So entwickelt sich ein Gespräch zwischen uns. Wie bei einem Tennismatch flie­gen Informationen und Fragen anstelle von Bällen in einer hohen Geschwindig­ keit hin und her. Spielerisch und nach einer gewissen Zeit schon fast mit einer gewissen Leichtigkeit werden selbst schwierige und belastende Themen «ins Spiel» gebracht. Und auch immer wieder die Warum­Frage – warum ich, warum fühlt es sich so an?

Bei diesem Hin und Her verliere ich das Zeitgefühl. Die biografischen Erzählun­gen dieser Frau berühren mich sehr, und gleichzeitig fühle ich grossen Res­pekt dieser Person gegenüber. Wie sie die ganz unterschiedlichen Herausfor­derungen, die ein Leben stellen kann, jeweils gemeistert hat und angegangen ist, löst bei mir grosse Bewunderung aus. Es sind Erfahrungen, die ein Leben reich und erfüllt werden lassen. So berichtet sie von Freud und Leid, von Verlust und Glück, von Beziehungen und Einsamkeit. Und die Frage nach dem Warum steht immer wieder wie eine Falle im Raum, und ich muss sehr darauf achten, nicht selber hineinzu­treten. Denn die Versuchung ist gross – und wir sind auch so sozialisiert –, dass auf eine Frage eine Antwort folgen muss.

Doch in diesem «Match» gibt es keine direkten Antworten auf solch grosse Lebensfragen. Das ist uns beiden bewusst, und trotzdem ist es gut, auch immer wieder nach dem Sinn und/oder Grund zu fragen. Denn nur so bleiben wir Suchende, sind neugierig unterwegs, wollen verstehen, zumin­dest nachvollziehen können! Vielleicht ist es genau dieses Suchen, was meine Gesprächspartnerin so aktiv und wach scheinen lässt. Ganz in der Hoffnung des Sprichworts: «Wer sucht, der findet!»

Patrick Schafer, Seelsorger im Inselspital

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