Wann lüge ich, bin nicht ich selbst, ziehe vielleicht bewusst eine Maske an? Foto: iStock/yamasan

«Weder bagatellisieren noch dogmatisieren»

Aus Not lügen

Du sollst nicht lügen: Nimmt man sich diesen Leitsatz zu Herzen, gerät man rasch in einen inneren Konflikt. Theologe und Ethiker Hubert Kössler ordnet ein.

von Marcel Friedli

Lügen ist ein No-Go. Diese Haltung ist tief in mir drin. Sie bringt mich immer wieder in ein inneres Dilemma.

Zum Beispiel, als ich zu einem ganztägigen Anlass am Wochenende eingeladen werde, der obligatorisch ist und als Weiterbildung gilt. Ich weiss aus Erfahrung, dass mich solche Events auslaugen, wegen der vielen Eindrücke und Interaktionen. Zusätzlich setzen sie mir zu, wenn mein Energiepegel im unteren Bereich ist. Dann habe ich das ganze Wochenende zum Auftanken nötig – um genug Reserven für die vollbeladene kommende Woche aufzubauen.

Darf ich das so ungeschminkt der Organisation mitteilen, der ich verpflichtet bin, und mich verpflichtet fühle? Mein Fernbleiben wie eben ausgeführt zu begründen, würde wahrscheinlich als Affront empfunden werden. Oder bei günstiger Einschätzung: als faule Ausrede.
Also sec abmelden, ohne Begründung? Das würde wohl mehr Fragen aufwerfen als beantworten und wäre dem Vertrauen, das mir wichtig ist, nicht förderlich.

Bleibt nur noch der Weg der Notlüge? Ist die Not gross genug dafür?

Weglassen und hinzufügen

Nach längerem innerem Ringen entscheide ich mich, mich zu entschuldigen – mit einer Begründung, die im strengen Sinn eine (Not-)Lüge ist: Ich bleibe vage, lasse etwas weg und fügte mental etwas dazu. Konkret heisst das: Ich teile mit, ich könne aufgrund einer Verpflichtung nicht teilnehmen. Damit meine ich im Stillen die Verpflichtung mir selber gegenüber – jene, mir selber Sorge zu tragen. Schriftlich ist das einfacher als mündlich, weil man an der Formulierung feilen kann und einen weder die Stimme noch der Gesichtsausdruck verraten kann.

Meine Abmeldung wird entgegengenommen, akzeptiert. Ohne dass nachgefragt wird.

Wie das oft passiert. Denn: (not-)lügen ist zwar verpönt, aber weil es so menschlich, kommt es häufig vor. Dessen bewusst ist sich auch der Theologe Hubert Kössler,  Co-Leiter Medizinethik sowie Seelsorge am Inselspital Bern. Trotzdem soll man Notlügen nicht banalisieren, wie er im Interview mit dem «pfarrblatt» sagt.

«Realisieren, dass man lügt»

«pfarrblatt»: Herr Kössler, darf man sich von einer obligatorischen Veranstaltung abmelden mit der Begründung, man habe eine Verpflichtung – auch wenn man streng genommen teilnehmen könnte?

Hubert Kössler: Grundsätzlich würde ich sagen: Je wichtiger das Fernbleiben für die Gesundheit und je nachteiliger das Bekennen der Wahrheit für die Beziehung ist – desto erlaubter ist die Notlüge.

Wie oft greifen Sie zu einer Notlüge?

Es kommt darauf an, was man unter einer Notlüge versteht. Ist es eine Notlüge, wenn man jemandem einen guten Tag wünscht, obwohl man das nicht ehrlich meint? Oder wenn man auf die Frage nach dem Befinden sagt: danke, gut – weil man nicht nähere Auskünfte geben will?
Rechnet man das mit, kommt an einem Tag schon was zusammen. Vielleicht zehnmal?

Als Ethiker werden Sie das wissen: Wann ist eine Notlüge erlaubt?

Ich finde, man darf es sich nicht einfach machen: Das Lügen nicht bagatellisieren, im Sinne von: Das machen alle. Sonst werden wir der Bedeutung des Vertrauens für die Kommunikation nicht gerecht. Aber wir dürfen meines Erachtens das Verbot der Lüge auch nicht dogmatisieren.

Warum nicht?

Sonst passiert das, was eine Bekannte von Immanuel Kant einmal erlebt hat: Sie war derart begeistert von Kants kategorischem Verbot jeglicher Lüge, dass sie ihrem Ehemann etwas, das sie ihm bis dahin vorenthalten hatte, erzählte. Offenbar ging es nicht um etwas Wichtiges. Dennoch war der Ehemann so enttäuscht, dass er sich von seiner Frau trennte.

Ist der Schaden also grösser als der Nutzen der Ehrlichkeit – dann ist es angemessen, nicht die absolute Wahrheit zu sagen?

Stimmt an sich. Aber: Wer kann das beurteilen? Für manche Menschen war etwa die Freiheit wichtiger als das blosse Überleben. Sie sind lieber gestorben, als ihre tiefste Überzeugung zu verraten. Vor dieser Schaden-Nutzen-Abwägung habe ich grossen Respekt. Einfach ist sie nicht durchzuführen.


Spielen wir uns etwas vor, wenn wir zu einer Notlüge greifen?

Nein –  wenn wir uns bewusst machen, dass wir lügen. Ich fürchte aber, dass wir in der Gefahr sind, gar nicht mehr zu realisieren, dass wir lügen. Man kann sich so daran gewöhnen, dass man die eigenen Geschichten für wahr hält – weil man sie sich immer wieder erzählt.

Sind wir uns jedoch bewusst, dass wir aus einer Not heraus lügen – soll, muss das gebeichtet werden?

Ich weiss nicht, wie andere dies handhaben – ich jedenfalls beichte jede meiner Notlügen. (Das war eine Notlüge.)

Also können und müssen wir Ihrer Meinung nach nicht immer total ehrlich sein?

Ja. Es ist meiner Ansicht nach nicht immer möglich, vollkommen ehrlich zu sein. Es soll der Situation angemessen sein.

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