Wenn Christus Maria auf den Armen trägt

Eine Umkehrung der Pietà

In der Marienkirche in Bern befindet sich eine besondere Mariendarstellung. Eine Bildbetrachtung zu Maria Himmelfahrt von Sandro Fischli*.

Marienfrömmigkeit ist meist nur noch in katholischen Herzlanden zu finden. Aber Maria schaut mich in der Berner Marienkirche auf einem der byzantinischen Bildsprache nachempfundenen Mosaik immer mit so grossen Augen an, dass ich nicht wegschauen kann (siehe Seite 15 in dieser Ausgabe). Mit ihr wird immerhin eine Frau gewürdigt; gleichzeitig wird die Frau damit in einer Art Entlastungsideologie instrumentalisiert, das bleibt doppelbödig. Die Würdigung gipfelt in ihrer Himmelfahrt – etwas, das ähnlich schwierig zu verstehen ist wie die Auffahrt ihres Sohnes.

C.G. Jung war sehr erfreut, als 1950 die Himmelfahrt Marias zum Dogma erklärt wurde; er sah darin eine Erweiterung der Dreifaltigkeit zu einer Vierheit, der symbolischen Zahl von Ganzheit. Ursprünglich wollte ich mich ein bisschen zu solchen theologischen Gedanken äussern, aber als ich dann auf das Bild stiess mit Christus, der Maria auf seinen Armen trägt, waren all diese abstrakten, intellektuellen Überlegungen wie weggewischt.

Darstellungen wie diese waren weitverbreitet bis ins 15. Jahrhundert, dann verschwanden sie mehr und mehr. Das Bild in der Dormitio-Abtei auf dem Zionsberg beruht auf einer traditionellen Ikone, und das Motiv findet sich in vielen Ostkirchen, beispielsweise in Thessaloniki.

Ein bisschen in der Theologie ausgeholt werden muss hier allerdings schon noch. Auffahrt heisst auf Lateinisch «Ascensio», während das lateinische Wort für Marias Himmelfahrt «Assumptio» lautet, also Empfängnis – sie wird im Himmel empfangen, aufgenommen.

Die Auffahrt in den Himmel ist ein archetypisch königliches Attribut, an das sich die christliche Erzählung provokativ anlehnte. (Wobei hier auch für Jesus die Begriffe wechseln. Oft wird auch bei seiner Auffahrt «Assumptio», Empfängnis im Himmel, verwendet.) Maria aber steigt nicht als Königin zum Himmel auf, sondern als «Ersterlöste» unter allen Verstorbenen. Ihr Grab ist auf den Bildern meist nicht leer, das Mosaik in der Marienkirche ist da eine Ausnahme. Maria ist wirklich entschlafen, im grossen Schlaf (Dormitium, ein anderer Begriff für das Mysterium der Himmelfahrt), aus dem sie aber als erste erweckt wurde.

Ist dieses Bild nicht wie eine lebensbejahende Umkehrung der Pietà, in der die zutiefst leidende Mutter ihren toten Sohn hält? Hier trägt der Sohn wie ein Vater seine im Himmel wortwörtlich neugeborene Mutter wie ein kleines Kindchen in den Armen. In einem solchen Bild finde ich keine Doppelbödigkeit mehr. Mit Maria feiern wir zwei Empfängnisse: wie sie ihren Sohn empfängt und wie ihr Sohn sie empfängt.

*Sandro Fischli ist freier Autor und Kunstfreund.

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