«Theologie ist die Grundlage und Aufforderung zu all dem, wofür ich einstehe.» Susanne A. Birke. Foto: Pia Neuenschwander

«Wer seine Arbeit verstecken muss, wird einsam»

Susanne A. Birke über Seelsorge im Tabubereich (SiTa)

Susanne A. Birke (55) arbeitet seit März bei der Basler Seelsorge im Tabubereich (SiTa). In Gesprächen mit den Sexarbeiterinnen kommen Alltagssorgen, Glaubenskonflikte und die Gottesbeziehung der Frauen zur Sprache.

Interview: Anouk Hiedl / Fotos: Pia Neuenschwander

«pfarrblatt»: Warum sind Sie Seelsorgerin geworden?

Susanne A. Birke: Als Kind wollte ich Rechtsanwältin werden, bis ich merkte, dass Recht und Gerechtigkeit manchmal auseinanderklaffen. Meine Eltern waren der Kirche gegenüber sehr distanziert eingestellt. Als ich mich als Jugendliche für die Bibel interessierte, fand ich zu Hause keine. Beim Lesen erschrak ich und dachte: Wenn Gott so ist, möchte ich nichts mit ihm zu tun haben.

In der Schule und in der Katholischen Jungen Gemeinde (KJG) wurde mir ein positives Gottesbild vermittelt. Später verhalf mir die historisch-kritische Exegese zu einem neuen Zugang. Jugendgottesdienste, Lager, überhaupt die freiwillige Jugendarbeit haben mein Leben ausgefüllt. So habe ich mich fürs Theologiestudium entschieden.

Meine Eltern waren skeptisch, die offizielle Kirchenlehre würde unweigerlich zu Spannungen mit meiner feministischen Ausrichtung führen, weil ich in der Friedens-, Frauen- und Anti-Kernkraft-Bewegungen aktiv war. Aus meiner KJG-Sicht hingegen passte es zusammen. Mein Glaube ist bis heute die Grundlage all dessen, wofür ich einstehe.

Sie machen in Basel aufsuchende Seelsorge. Wohin gehen Sie?

In die Toleranzzone, in Bars und Salons oder auch in private Wohnblocks überall in der Stadt. Einmal monatlich, beim freien Mittagessen von «Aliena» oder im Abendcafé von «Rahab»* können die Sexarbeiterinnen bei Bedarf von sich aus zu mir kommen.

Welche Anliegen kommen zur Sprache?

Meine Stelle ist hauptsächlich für die Frauen im Basler Rotlichtmilieu da. Mindestens 90 Prozent sind Migrant:innen, zehn Prozent Schweizerinnen. Suche ich sie auf, überlasse ich es ihnen, auch Nein zu sagen.


Diese Frauen haben häufig wenig Möglichkeiten, Grenzen zu setzen. Wenn sie erzählen, dann oft von ihrem Lebensalltag, auch über Dinge, die man in einer Pfarrei hört – Sorgen um die Kinder, Gedanken an die Familie in der Heimat oder gesundheitliche Probleme. Spezifisch für Sexarbeitende ist, dass sich viele nicht offen zeigen können oder wollen. Wenn man seine Arbeit verstecken muss, macht das einsam. Man gehört so, wie man ist, nicht wirklich dazu, weder in der Familie noch in der Gesellschaft.

Sind Glaube und Religion ein Thema?

Meist kommt das im Gespräch ganz von selbst mit rein. Die Frauen erzählen von ihrem Glauben, was dabei schwierig ist, und sprechen auch direkt mit Gott. Das schlechte Gewissen, das gerade bei der Tätigkeit als Sexarbeitende aus Konflikten mit ihrem Glauben entsteht, ist oft Thema.

Viele der Frauen fühlen sich von der Kirche abgelehnt und verurteilt. Eine ist deshalb aus der Kirche ausgetreten. Die Hemmschwelle, in die Kirche zu gehen, ist hoch. Die Frauen wollen sich dort nicht zeigen oder haben kein Vertrauen. Viele fühlen sich unsicher und im Clinch. Einige sagen auch, sie machen das, weil sie keine andere Wahl habe – das gibt intensive Gespräche.

Wie gehen Sie damit um?

Ich versuche, dies im Austausch und im spontanen gemeinsamen Gebet aufzufangen, oder biete einen Segen an. Danach hat mich eine Frau spontan gedrückt, aus Dankbarkeit, dass sie hier okay ist, so wie sie ist. Ich habe auch schon mit ihnen zu Gott als Brückenbauer gebetet, weil andere den Kontakt mit ihnen abgebrochen hatten. Manchmal bin ich einfach nur an ihrer Seite. Manchmal sind wir beide ohnmächtig, doch dann sind wir es zusammen.

Ich bete hier viel, viel mehr als bisher. Der Wunsch der Frauen nach einer Gottesbeziehung ist da und auch der Aufruf: Erinnere dich an mich, vergiss mich nicht, Gott. Ich habe kleine laminierte Bilder der Madonna dabei. Verschenke ich eines, ist die Reaktion oft ähnlich: Die Frau nimmt das Bild, schaut es an, küsst es, führt es zu ihrem Herzen, zur Stirn und steckt es dann in ihre Tasche.


Wäre ein Mann an Ihrer Stelle denkbar?

Ich glaube nicht. Sicher nicht als Erstkontakt. Wenn überhaupt, dann auch als Person, die den Frauen sagt, dass sie OK sind, wie sie sind. Die Frauen haben ein unglaubliches Feingefühl und lesen ihr Gegenüber innert Sekunden.

Auch ich muss aufpassen, dass sie sich nicht plötzlich um mich kümmern, etwa wenn mein Spanisch zu schlecht ist. Es gibt auch Männer, die im Rotlichtmilieu ihr Geld verdienen und für Männer arbeiten. Da ist der Graben zur Kirche nochmal grösser. Für sie wäre ein Seelsorger sicher geeigneter als ich.

Wie haben Sie Ihren ersten Einsatz im Milieu erlebt?

Ich wusste von früheren Begegnungen, dass die Frauen einen unglaublich gut lesen. Dementsprechend habe ich meine innere Befindlichkeit gut abgecheckt und mir überlegt, wie ich eine Verbindung zu ihnen herstellen kann. Können sie mit dem, was ich mitbringe, in ihrem Arbeitsumfeld etwas anfangen? Funktioniert es, wenn wir so unterschiedlich angezogen sind?

Dass ich jeweils mit jemandem von «Aliena» unterwegs bin, einer Beratungsstelle für Sexarbeiterinnen, hat mir den Einstieg sehr erleichtert. Einmal pro Monat sind wir zusammen am Nachmittag unterwegs, und ich kriege so immer gleich ein Coaching zu möglichen Reaktionen.

Bislang gibt es die SiTa ausschliesslich in Basel. Wie sieht es in Bern oder anderen Kantonen aus?

Der Bedarf dafür besteht woanders bestimmt auch. Noch vor 15 Jahren hätte ich gesagt, klar, Sexarbeitende brauchen Unterstützung, aber Seelsorge? In Basel gab es diese Arbeit schon früher, erst beim Aids-Pfarramt, dann bei «Rahab» von der Heilsarmee. Das hat hier für diese Bedürfnisse sensibilisiert. Medienberichte, dass mit Seelsorge und Sozialarbeit im Tabubereich ein Nerv getroffen wird, tragen dazu bei, dass diese Strukturen hier bestehen. In Zürich macht Sr. Ariane Stocklin für «Incontro» ähnliche Arbeit.

Sie haben nach über 20 Jahren beim Fachbereich Frauen und Gender der Aargauer Landeskirche zur Basler SiTa gewechselt. Sie sind auch als Regenbogen-Katholikin aktiv. Was haben diese Bereiche gemeinsam?

Bei allen dreien geht es um Menschen, denen keine gleichen Rechte und keine gleiche Würde zugestanden werden. Wenn sich die Regenbogen-Pastoral an einer Pride zeigt, kritisieren manche Stimmen, das sei nicht katholisch, während manche aus der LGBTQ+-Community fragen: Was wollt ihr denn hier, mit dem was die katholische Kirche vertritt? Dennoch erlebe ich viel Dankbarkeit, wenn die Kirche dabei ist.

In der Kirche wird gerungen, das ist nicht einfach. Das zeigt sich auch beim synodalen Prozess. Und an einigen Orten in unserer Kirche werden noch immer Namen des Glaubens Verletzungen fürs Leben zugefügt. Die Bibel und die katholische Tradition sind nicht «einfach so». Es ist eine Entscheidung, wie man etwas auslegt. Tradition ist ein Konstrukt – und damit ein Kampf um die Deutungshoheit.

*«Rahab» ist die Arbeit der Heilsarmee unter Menschen in der Prostitution.

 

Seelsorge im Tabubereich
Seit 2016 existiert die «SiTa – Seelsorge im Tabubereich» der Römischkatholischen Landeskirchen Baselland und Basel-Stadt. Das Angebot richtet sich in erster Linie an Sexarbeiterinnen. SiTa bietet ihnen geschützte Seelsorgegespräche, gemeinsame Gebete und Gespräche über ihre Lebenssituation und darüber hinaus, wie der eigene Glaube stützend gelebt werden kann.
Weitere Infos: www.sitablbs.ch/sita.

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