Das Theaterstück «Gift und Gnade» gastiert in Kirchen und stimmigen Sälen und schafft dort Raum für Themen wie Schwäche, Sterben und Trauer. Doch statt einer düsteren Aufführung erlebt das Publikum ein Paar, das sich ins Leben kämpft.
von Christina Burghagen
Nach zehn Jahren begegnen sich ein Mann und eine Frau am Ort, an dem ihr Sohn Jakob begraben wurde. Beide suchten nach dem tödlichen Unfall unterschiedliche Wege, um das Unfassbare zu verarbeiten. Ihre Ehe ist darin zerbrochen. Er zog weg und fing ein neues Leben an. Sie blieb im gemeinsamen Haus zurück – gefangen in der Trauer um ihr Kind.
Der Grund ihres Treffens ist ein Brief, der die Umbettung des Grabes des Sohnes ankündigt. Auf dem Friedhof sei Gift im Boden gefunden worden, steht darin. Das Elternpaar begegnet sich vorsichtig und unsicher, denn der Schmerz hat sie weit voneinander entfernt.
Runder Zuschauerraum
Das Publikum sitzt im Kreis um die Szenerie auf einzelnen Stühlen und folgt dem Gespräch der verwaisten Eltern. Bevor sie eintrifft, macht er Rückenübungen, da ihn offensichtlich Schmerzen plagen. «Gut siehst du aus», sagt er dann zu ihr, und sie antwortet: «Du auch.» Nach anfänglich gestelzten Dialogen werden ihre Worte scharfzüngiger und vorwurfsvoller: «Wusstest du, dass ich süchtig nach Schlaftabletten war?», fragt sie, und es klingt wie ein Vorwurf und nicht wie ein Geständnis. «Leiden macht süchtig», entgegnet er.
Erstaunlich und genial, wie die Schauspielenden Lilian Naef und Markus Amrein es schaffen, kein Mitleid zu erwecken. Vielmehr wirft das hochkonzentriert Gesprochene den Zuschauenden auf sich selbst zurück, der wiederum Partei für sie oder ihn ergreift. Das kann aber durchaus im Laufe der Aufführung wechseln. Denn die Trauer hat sie im Würgegriff, während er mit seiner neuen Frau ein Kind erwartet. Was ist besser? Trauern oder leben?
Die Regisseurin Eva Mann sagt zum adaptierten Stück, das als «Gift. Eine Ehegeschichte» von Lot Vekemans in der Urfassung vorliegt: «Wir sind ungeübt im Umgang mit Verlust und Schmerz. Gemeinsame Rituale fehlen unserer weitgehend post-religiösen Gesellschaft genauso, wie dem Einzelnen die Worte für Verlust und Mitgefühl.» Der Tod sei im Wortsinn unfassbar – und mache Angst.
Das könne damit zusammenhängen, dass Trauer in unserer Gesellschaft etwas Privates sei – nichts, was man offen lebe. Zwei Tage bezahlten Urlaub gäbe es, wenn ein Kind stirbt, oder ein Elternteil, ein Partner, eine Partnerin. Danach sei wieder Funktionieren angesagt – als sei die Verdrängung ein wirksames Mittel für ein Trauma.
Er singt, sie klagt
Schwäche, Sterben und Trauer seien in unserer Gesellschaft ebenso ein Tabu, wie das Vertrauen auf eine heilende Kraft, die dem Leben selbst innewohnt. Enttabuisierung tue also Not, ist Eva Mann sicher. So beschäftigen sie die Fragen: Was brauchen wir dazu? Antworten? Geschichten? Metaphern? Dialog? Berührung? Beim Zuschauen reflektieren wir auf diese Weise uns selbst und unsern Lebenssinn.
Für «Gift und Gnade» arbeitet Produzentin Marie Theres Langenstein (MTL-Produktionen) gezielt mit Pfarreien, Kirchen und verwandten sozialen Institutionen zusammen. In der langjährigen Tätigkeit als Theaterschaffende haben Lilian Naef, Eva Mann und Markus Amrein die Erfahrung gemacht, dass die spannendsten Begegnungen oft ausserhalb gängiger Theaterhäuser passieren – noch werden weitere Aufführungsorte gesucht.
«Ich bin bei näherer Betrachtung doch nicht so froh, dich zu sehen», wirft sie ihm an den Kopf. Aber eigentlich sagt sie das zu sich selbst. Sie hasse Glück und glückliche Menschen. Er erzählt, dass er jeden Dienstag in einem Männer-Chor singt, und wie gut ihm das tue. Daraufhin sie: «Ich hasse solche Geschichten, die man nicht wiederholen kann.»
Mit einem überraschenden Ende und einem Fünkchen Hoffnung endet das einstündige Kammerspiel. Bei der anschliessenden Diskussion der Gäste gab es beileibe keine Sprechpausen, vielmehr fühlte sich jede und jeder an eigene Verluste, Ängste und Wünsche erinnert.
«Gift und Gnade», Theaterstück, 18.11.2022, 19.30 Uhr, Klösterli Oberhofen
Infos: Reformierte Kirche Hilterfingen
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