Wer sich für besser hält als andere, läuft Gefahr, in den eigenen Reihen nicht richtig hinzuschauen. Ein solches Verhalten begünstigt Missbrauch und Vertuschung auch an der kirchlichen Basis, sagt «pfarrblatt»-Redaktorin Sylvia Stam in ihrem Kommentar.
Seit vier Monaten finden landauf, landab Diskussionen und Tagungen zu sexuellem Missbrauch im kirchlichen Umfeld statt. Über 1000 Medienberichte seien seit der Publikation der Pilotstudie im September zum Thema erschienen, war am Dienstag auf einem Podium in der Offenen Kirche Bern zu hören. Immer wieder wird dabei nach den Ursachen gefragt.
Am 30. Januar hörte ich auf einem Podium in der Offenen Kirche Bern ein Argument, dessen Tragweite ich bislang so nicht wahrgenommen hatte. Stefan Loppacher, Leiter des Fachgremiums «Sexuelle Übergriffe im kirchlichen Umfeld» der Schweizer Bischofskonferenz und Präventionsbeauftragter im Bistum Chur, sprach vom «überhöhten Selbstnarrativ» kirchlicher Organisationen: Wer von sich selbst glaubt, besser zu sein als andere, schaue oft nicht genau genug auf die eigene Organisation und ihre Strukturen. Dieses Verhalten verhindert Aufklärung.
So erging es letzte Woche der Evangelischen Kirche Deutschland. Sie wähnte sich in einer anderen Lage als ihre römisch-katholische Schwester, weil sie kein Zölibat kennt, die Frauenordination zulässt und demokratische Strukturen aufweist. Doch die Anzahl Betroffener und Täter:innen in einer Studie, die am Freitag veröffentlicht wurde, ist denen der katholischen Kirche vergleichbar.
Auch in der katholischen Kirche Schweiz hörte man vor dem 12. September Stimmen, dass die Schweiz mit ihrem dualen System im Hinblick auf Missbrauch und Vertuschung besser aufgestellt sei als andere Länder. Die Pilotstudie hat uns eines Besseren belehrt, das duale System funktionierte nur bedingt als Korrektiv.
Darum sollte sich auch die kirchliche Basis nicht in Sicherheit wiegen: Missbrauch und Vertuschung sind nicht nur Thema der Bischöfe. Übergriffe geschehen überall: In der Sakristei, in Jugendgruppen, im Pfarreizentrum, in Kirchgemeinden. Wir alle müssen hinschauen, hinhören und gegebenenfalls Verantwortung übernehmen. Missbrauch ist auf jeden Fall auch eine Folge der patriarchalen, hierarchischen Kirchenstruktur, unter der viele Menschen an der Basis leiden. Aber das darf keine Entschuldigung sein, in den eigenen Reihen nicht genau hinzuschauen.