Bischof Joseph Maria Bonnemain* vertrat die Bischofskonferenz an der Medienorientierung zur Vorstudie der Universität Zürich zum sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche Schweiz. Viele Missbrauchsfälle wurden vertuscht, Opfer ignoriert. Ein Gespräch darüber, was Kirche ist und sein könnte.
Interview: Andreas Krummenacher
Das Medienecho auf die Vorstudie zu sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche war und ist gewaltig. Können Sie schon ein Fazit ziehen?
Bischof Joseph Maria Bonnemain: Es ist noch zu früh. Viele Leute sind konsterniert, erschüttert, entsetzt, enttäuscht. Einige sind wütend. Ich begreife das. Umso mehr sollten wir verkünden, dass Gott uns Menschen nicht im Stich lässt. Es gibt diese Abgründe, jetzt muss es uns gelingen, die Kirche zu läutern, sie vom Ballast zu befreien. Aus diesem Grund haben wir die Studie in Auftrag gegeben.
Sie müssen jetzt in einer Voruntersuchung Vorwürfe um Vertuschung durch ihre Kollegen in der Bischofskonferenz genau unter die Lupe nehmen. Hätten Sie diesen Auftrag aus Rom auch ablehnen können?
Ich hätte diese Anfrage ablehnen können. Das Problem wäre dann aber bloss abgeschoben. Es gibt Aufgaben, die müssen erledigt werden. Wenn ich absage, müsste ein anderer Bischof gesucht werden. Die Aufklärung wäre verzögert worden. Das ist nicht gut. Den Opfern und der Wahrheit zuliebe, versuche ich, die Hintergründe und Abläufe so sachlich wie möglich aufzuzeigen. Mein Auftrag ist nicht, gegen meine Mitbrüder zu kämpfen. Ich hoffe, diese verstehen, dass ich die Sachverhalte so objektiv wie möglich klären muss. Es geht um eine sachliche Aufklärung. Die Opfer haben ein Recht darauf.
Hätten Sie sich im Rückblick besser auf das gewaltige Medieninteresse vorbereiten können?
Ich frage mich eher, wie man die Gläubigen und die Seelsorgenden besser auf die Ergebnisse der Vorstudie hätte vorbereiten können. Ich komme aber zu keiner klaren Antwort. Die Medienberichterstattung hat eine Eigendynamik entwickelt. Am Ende ist es positiv. Wir wurden wachgerüttelt und können zur Quelle zurückkehren; zu dem, was die Kirche im Kern ausmacht. Der Kulturwandel muss kommen, wir müssen über die Bücher gehen. Das war die Motivation, diese Aufarbeitung und damit einen Neubeginn anzugehen. Was ist Kirche? Was ist das Wesentliche an der Kirche? Sind wir wirklich für die Menschen da? Steht der Mensch immer im Mittelpunkt?
Sie wollen auch das Amtsverständnis hinterfragen oder die Rolle der Frau in der Kirche. Das wird mit Rom kaum zu machen sein.
Papst Franziskus spricht seit zehn Jahren über das falsch verstandene Amtsverständnis, er kritisiert den Klerikalismus. Wir sind nicht da, um zu dominieren. Er hat darum den synodalen Prozess angestossen. Es wird in Rom, jetzt im Oktober, die erste Vollversammlung der Bischöfe der Welt stattfinden. Den Abschluss bildet dann im Oktober 2024 eine zweite Vollversammlung. Der synodale Prozess will am Ende eine geschwisterliche Kirche.
Haben Sie Hoffnung auf diesen synodalen Prozess?
Ja, aber man muss klar machen, worum es dabei geht. Synodalität soll die Grundlage der Kirche werden. Wir wollen miteinander, als Volk Gottes, unterwegs sein. Als Lernende, als Suchende sollen wir uns gemeinsam fragen, was das Wichtige, das Echte ist, was der Wille Gottes sein könnte, was zum Heil des Menschen beiträgt. Auf dieser Grundlage können dann die konkreten Fragen rund um Ämter und Rollen neu beantwortet werden. Aber das wird erst nach dem Herbst 2024 geschehen können. Viele haben jedoch diese Geduld nicht mehr.
Bis dahin ist die katholische Kirche definitiv keine Volkskirche mehr?
Die Kirche ist diese Gemeinschaft, die um Jesus Christus herum entstanden ist. Es waren Menschen, die fasziniert waren von seiner Gestalt. Ein Gott, der aus Liebe zum Menschen selbst Mensch wurde. Er zeigt sich verletzbar, scheitert, fängt neu an. Die Armen, die Kranken, die Einsamen, die Erniedrigten befreit er und macht sie glücklich. Die ganze Welt will er menschlicher und glücklicher gestalten. Die Leute waren begeistert, sie änderten ihr Leben und folgten ihm nach. Das ist Kirche. Im Verlauf der Jahrhunderte sind Strukturen und Machtbereiche entstanden. Viele wurden bequem, selbstgefällig. Das ist heute alles Ballast und gehört nicht zum Wesen der Kirche.
Angesichts dieser Botschaft handelten Bischöfe, die Missbrauch vertuschten, gegen den Willen Gottes. Dachten diese tatsächlich, sie würden damit Schaden von der Kirche abwenden?
Solche Mechanismen haben einen zutiefst menschlichen Charakter, zum Teil bis heute. Man wollte den guten Ruf der Institution retten, die eigene Reputation. Man dachte auch, die armen Gläubigen würden schockiert den Glauben verlieren, würden sie von solchen Taten erfahren. Also vertuschte man. In der ganzen Gesellschaft war diese Haltung damals weit verbreitet. Einige denken in der Kirche leider immer noch so. Noch vor 30 Jahren wollten auch die kantonalen Behörden solche Geschichten, insbesondere wenn es Würdenträger betraf, unter den Teppich kehren.
Dann müsste man auch die Medien, die katholische Presse, dazuzählen…
Es war die gesamte Haltung der Gesellschaft. Sonst hätte es niemals so lange vertuscht werden können. Solch schmutzige Geschichten tabuisierte man. Man wollte nicht darüber sprechen, Scheinlösungen mussten her. Vor 30 Jahren wusste man auch nicht so gut wie heute, was ein posttraumatisches Belastungssyndrom ist und auslösen kann. Ein Minderjähriger, der missbraucht wird, ist sein ganzes Leben lang traumatisiert. Dessen war sich keiner bewusst. Wir sind heute Gott sei Dank weiter.
Im Moment kocht das Thema hoch. Ich zweifle daran, ob das zielführend ist, ob durch diese Berichterstattung Lösungen einfacher werden.
Ich möchte handeln, aber dafür fehlt mir im Moment die Zeit. Ich würde jetzt am liebsten weinen, schweigen, die Schuld auf mich nehmen und dann Lösungen umsetzen. Wenn alles nur bei den Inszenierungen bleibt, haben wir nichts erreicht. Wir müssen handeln.
Was würden Sie als erstes tun?
Ich könnte alle diese Stunden, die ich jetzt für Interviews brauche, nutzen und eine wirksame Meldestelle für Missbrauchsopfer einrichten. Das braucht Zeit, Gespräche, mit bereits existierenden Fachstellen Kontakt aufnehmen, Leistungsvereinbarungen aushandeln, etc. Das könnte ich jetzt tun. Stattdessen bin ich mit Medienterminen blockiert, aber auch sie sind wichtig. Die Menschen wollen Erklärungen und haben ein Recht darauf.
Sie können aber über das Medieninteresse nicht überrascht sein?
Das ist richtig. Ich dachte mir schon im Vorfeld, dass die einzelnen Fallbeispiele, weil sie derart schockierend sind, von den Medien exemplarisch herausgehoben werden. Es ist aber schade, dass die komplexe und sehr gute Analyse der Historikerinnen dabei untergeht. Sie haben uns wertvolle Grundlagen geliefert, damit wir die richtigen Massnahmen einleiten.
Eine Organisation muss eine lernende Organisation sein. Die Kirche ist es offensichtlich nicht …
Die Kirche ist keine Organisation. Die Kirche sind wir, die wir Lernende bleiben müssen, wir alle und immer wieder neu. Wissen Sie, die Strukturen können sich ändern. Wenn sich die Herzen nicht ändern, dann schaffen wir es jedoch nicht und alles bleibt gleich. Die Kirche hat über Jahrhunderte sakramentalisiert, aber nicht evangelisiert. Das heisst, sie hat gefirmt oder getauft. Das war das, was sie vorhin als Volkskirche meinten. Wesentlich aber ist die Nachfolge, dass eben Christus mit uns unterwegs ist und uns nicht im Stich lässt. Er will die Welt, von der Gott träumt, verwirklichen und regt mich an, mitzumachen. Das ist Christentum. Diese Haltung muss im Menschen wachsen. Trotz meinen persönlichen Schwächen bin ich bereit, mich von diesem Jesus ergreifen zu lassen. Sonst bleibt alles egoistisch und äusserlich, geistlos
Was bleibt ihnen von der Medienkonferenz in Erinnerung?
Die Anwesenheit von Vreni Peterer und Jacques Nuoffer. Zwei Menschen, die in der Kindheit schweren Missbrauch in der Kirche erlebt haben. Dennoch verachten sie uns Kleriker nicht, obwohl ich das verstehen könnte. Sie sind da, sie sprechen über den Missbrauch. Mit grösster Überwindung. Sie helfen damit anderen Opfern und uns. Sie sind bereit mit ihren Opferhilfeorganisationen anderen beizustehen. Sie suchen, gemeinsam mit der Kirche zusammen, nach Lösungen. Sie scheinen trotz alldem noch an das Gute im Menschen zu glauben und dass es dafür eine Quelle gibt. Das ist sehr bewundernswert und dafür bin ich dankbar
*Joseph Maria Bonnemain (*1948) ist seit 2021 Bischof von Chur. Seit 2002 ist er Sekretär des Fachgremiums «Sexuelle Übergriffe im kirchlichen Umfeld», das von der Schweizer Bischofskonferenz ins Leben gerufen wurde. Er studierte zunächst Medizin, anschliessend Philosophie, Theologie und Kirchenrecht.