«Wie gehen wir mit der himmelschreienden Ungerechtigkeit auf der Welt um?» Karl Johannes Rechsteiner. Foto: Christina Burghagen

«Wo wäre Jesus gestanden?»

Karl Johannes Rechsteiner engagiert sich für Südafrika und Namibia

Vor gut einem Monat ist Desmond Tutu gestorben. Der Berner Kirchensprecher Karl Johannes Rechsteiner (63) engagiert sich seit Jahrzehnten für Menschen in Südafrika und Namibia. Für ihn bleibt Desmond Tutus Frage zentral: «Auf welcher Seite stehen wir?»

Interview: Raphael Rauch, kath.ch

kath.ch: Was hat der Tod von Desmond Tutu mit Ihnen gemacht?

Karl Johannes Rechsteiner*: Es kamen viele Erinnerungen hoch. Ich besuchte seit 1985 regelmässig Südafrika und Namibia, habe Desmond Tutu aber immer wieder knapp verpasst. Trotzdem hat er mich geprägt. Er steht für die Frage: Wie gehen wir mit der himmelschreienden Ungerechtigkeit auf der Welt um? Desmond Tutus Antwort war klar: Die Kirche muss sich entscheiden, auf welcher Seite sie steht. Macht sie es wie die niederdeutsch-reformierten Kirchen, die zu rassistischen Kirchen wurden? Kooperiert sie mit den Mächtigen? Oder solidarisiert sie sich mit den Unterdrückten? Ich habe erst in Südafrika gelernt, was Konfession heisst.

Was heisst Konfession?

Ich bin in Bern in der Diaspora aufgewachsen. Hier ging es bei Konfession um die Frage: «Katholisch oder reformiert?» Wir Katholiken besuchten einen separaten Religionsunterricht und waren Exot:innen. In Südafrika habe ich Konfession als eine andere Frage kennen gelernt: Woran glauben wir? Was bezeugen wir? Es ging nicht um katholisch, reformiert, anglikanisch, methodistisch – die Kirchen arbeiteten sowieso eng zusammen. Die Frage lautete: Auf welcher Seite stehen wir? Wo wäre Jesus gestanden? Diese Erfahrung prägt mich bis heute.

Immer wieder wird die Frage diskutiert: Wie politisch soll Kirche sein? Wie blicken Sie heute auf die Debatte früher zurück?

Die Diskussion war damals aufgeheizt. Ich habe in einer Kolumne im Berner Pfarrblatt geschrieben, dass es höchste Zeit sei, Kirchengelder bei den Schweizer Grossbanken abzuziehen, die die Apartheid stützten. Es gab heftige Reaktionen und Protestbriefe. Für viele Menschen war ich ein Kommunist. Einen Vortrag über Namibia in einer Pfarrei musste ich abbrechen, weil ich nicht zu Wort kommen konnte. Viele in der Kirche hatten Angst sich zu exponieren. Mächtige Leute wie Christoph Blocher standen auf der Seite der Apartheid in Südafrika. Überhaupt verdiente die Schweiz gut mit dem rassistischen Südafrika.


Sie haben einen Online-Stadtplan mitentwickelt, der zu Spuren des Kolonialismus in Bern führt. Gibt es da auch Verbindungen ins südliche Afrika?

Bei «bern-kolonial» planen wir einen Beitrag zum Bundesarchiv, wo Akten liegen, die belegen, wie eng die Schweiz mit Südafrika verwickelt war und sich koloniales Denken fortsetzt. Bald folgt zudem ein Text zum Historischen Museum Bern, wo zahlreiche Artefakte vom Völkermord des Deutschen Reiches von 1904 an den Herero und Nama lagern, geplündert auf einem Schlachtfeld im heutigen Namibia.

Der Begriff Apartheid wird heutzutage zum Teil inflationär verwendet.

Manche Verschwörungstheoretiker:innen behaupten, ihre Freiheiten seien während der Pandemie eingeschränkt wie in der Apartheid. Sie zeigen damit, dass sie keine Ahnung davon haben, was Apartheid bedeutet hat: Millionen Menschen wurden vertrieben und zwangsumgesiedelt, es gab keine Bewegungsfreiheit für «Nicht-Weisse», es gab diskriminierende Passgesetze, systematische Gewalt gegen die Bevölkerung, gezielte Morde im Auftrag der Regierung, usw. Das mit der heutigen Lage bei uns zu vergleichen ist geschichtslos, absurd, inakzeptabel und dumm. In den 1980er-Jahren dachten wir immer: Die Zustände in Südafrika sind katastrophal. Aber als nach der Befreiung die Wahrheit ans Licht kam, war alles hundertmal schlimmer. Unter den Verletzungen und Wunden leiden viele Familien in Südafrika bis heute.

Was lebt vom kirchlichen Engagement für Südafrika heute noch?

Das Engagement für Südafrika hat Parallelen zum Engagement für die Befreiungstheologie in Lateinamerika: Es geht um die Option für die Armen, für die Unterdrückten. Damals wie heute stellt sich die Frage: Wie können wir mit den Menschen im Süden solidarisch handeln? Und was heisst das für uns in der Schweiz? Wo sind hier die «Armen»? In Bern entstand daraus etwa das Offene Haus «La Prairie» als Ort der Begegnung und für Menschen auf der Gasse. Wenn Kirche ihr soziales Gesicht zeigt und weltweite Gemeinschaft lebt, dann hat sie Zukunft.


Wo sehen Sie Potential?

Mich persönlich führten die Erfahrungen in Südafrika und Namibia unter anderem zu «Oikocredit» als Geldanlage für die Kirchen und nachhaltiges Investment. Viele Kirchenpflegen wollen davon leider nichts wissen, weil sie im traditionellen Bankendenken verhaftet sind. Doch das Potential ist riesig. Als Mitglied des internationalen Vorstands von Oikocredit durfte ich ein paar Jahre mit Zanele Mbeki, der damaligen First Lady von Südafrika, zusammenarbeiten. Auch hier hat mich Südafrika für mein Leben inspiriert.


* Karl Johannes Rechsteiner (*1958) ist PR-Berater und arbeitet für die Kommunikationsstelle der Katholischen Kirche in Region und Kanton Bern. Er engagiert sich seit Jahrzehnten für Menschen in Südafrika und Namibia. Stark geprägt hat Rechsteiner der Austausch mit dem Theologen Rommel Roberts, dessen Buch über die stillen Heldinnen und Helden Südafrikas er 2014 als Ghostwriter verfasste: «Wie wir für die Freiheit kämpften». Einen Nachruf von Rommel Roberts auf Desmond Tutu lesen Sie hier.

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