«Unfreundliche Übernahme durch die Katholiken.» Peter von Matt Foto: Remo Wiegand

Zu viel Lebensberatung, zu wenig Sakralität

Peter von Matt über Bruder Klaus, fehlende Sakralität und die Theologie Dürrenmatts.

Peter von Matt wird 80. Der emeritierte Zürcher Literaturprofessor ist ein Übersetzer zwischen katholisch-konservativer Heimatverbundenheit und reformiert-aufgeklärter Weltgewandtheit. Er gebe «keine Bekenntnisse» ab, stellte von Matt klar, als er diesem Interview zustimmte. Doch zwischen den bekenntnisfreien Sätzen Peter von Matts vibriert es von religiöser Sensibilität.

«pfarrblatt»: Sie haben Ende April beim Staatsakt für Niklaus von Flüe, der 520 Jahre vor Ihnen geboren wurde, den Festvortrag gehalten. Was bedeutet er Ihnen persönlich?
Die Heiligsprechung 1947 war für mich als Kind in Stans ein Grossereignis. Ich war Ministrant und stolz darauf, dass wir in Unterwalden jetzt einen eigenen Heiligen haben. Ein Staatsarchivar hatte zudem herausgefunden, dass die von Matt direkte Nachkommen von Niklaus von Flüe sind. Wobei das bei uns auf Hunderte zutrifft, der Mann hatte sich ja fröhlich fortgepflanzt (schmunzelt).

Was macht Niklaus von Flüe bis heute bedeutsam?
Seine grösste Tat war, dass er in einer der kritischsten Phasen der Eidgenossenschaft eine fundamentale Entscheidung mitverantwortet, wenn nicht bewirkt hat: das Stanser Verkommnis von 1481. Die Eidgenossenschaft war damals ein Froschlaich von selbstständigen Orten, die lose zusammenhingen und doch gegeneinander Krieg führten. Das Verkommnis war eine Mikroverfassung der Schweiz, die bis 1798 gegolten hat. Was von Flüe genau gesagt hat, wissen wir nicht, aber sein Charisma inspirierte. Es sind viele Begegnungen dokumentiert, in der von Flüe als zutiefst ehrliche Person erscheint, die ganz einfach, aber vollkommen klar spricht. Diese bestechende Wirkung ist so oft bezeugt von selbstbewussten, weltgewandten Personen, die ja nicht auf den Kopf gefallen waren, das konnte keine kollektive Einbildung sein.

Und Bruder Klaus‘ Glaube?
Man weiss, dass er Kontakte hatte zu mystischen Strömungen seiner Zeit, vor allem im Elsass. Seine Epoche war geprägt von einem wachsenden religiösen Selbstbewusstsein in der Bevölkerung, was zum Vorfeld der Reformation gehörte. Bruder Klaus war aber kein Reformator. Er wäre sicher gegen die Reforma- tion gewesen, sein Schlüsselwort war Friede. Trotzdem wurde er eine Autorität für beide Konfessionen, zeitweise stärker noch für die Reformierten. Die Krise dieser doppelten Wirksamkeit kam erst mit der Heiligsprechung, die als eine Art unfreundliche Übernahme durch die Katholiken erlebt wurde.

Bruder Klaus hat damals die Schweiz befriedet. Was ist heute unsere grösste Herausforderung?
Wir sind ein Land, das versucht unbeweglich zu bleiben auf einem Kontinent, der in einer unheimlichen Bewegung ist. Wir schwelgen in der Illusion, dass die anderen an dieser Bewegung schuld sind und wir nur schauen müssen, dass sie nicht zu uns rüber schwappt. Diese Selbsttäuschung wird politisch ausgenützt. Die innovativen Impulse in der Schweiz kamen immer aus den Städten. Aber die nationalen Symbole haben wir in den Bergen gesucht.

Besonders rechtspopulistische Parteien predigen heute gerne, dass sich nichts verändert. Sind diese Stimmen nicht auch ein wichtiger Warnruf gegen ein entfesseltes Welttempo, das viele überfordert und abhängt?
Nein. Rechtsnationale Bewegungen predigen Pauschallösungen. Das produziert Rauschzustände, die aber oft im Chaos enden. Politik ist harte Knochenarbeit, von einem Kompromiss zum nächsten. Der Kompromiss ist glanzlos, weil er in jeden Wein Wasser giesst. Demokratie ist langweilig. Deshalb kann sie die archaische Sehnsucht nach dem starken Mann wecken, der auf den Tisch haut und Ordnung schafft. Wenn der Starke dann noch reich ist, hat er Erfolg.

Besser aufgehoben als in der Politik wären Heilserwartungen in der Religion. Warum profitieren die Kirchen nicht von diesen Sehnsüchten?
Die Sehnsucht nach dem Jenseitigen verflüchtigt sich heute in exotische Riten und einen neuen Naturkult. In den Kirchen ist es vielen schlicht zu langweilig. Ich gebe zu: mir auch. Die Sakralität hat sich selbst verflüchtigt. Man biedert sich an und macht auf Lebensberatung. Ich habe das bei der Taufe meiner Enkelkinder erlebt. Statt der alten feierlichen Akte musste man bei kindischen Spielen mitmachen.

Für die meisten Menschen geht die Anpassung der Kirche an den Zeitgeist zu wenig weit.
Man hat gemeint, man wird attraktiv, wenn man das Latein abschafft, aber man hat keine neue sakrale Sprache gefunden, sondern ein totes Deutsch. Wen störte das früher, dass man Latein nicht verstand? Das war eine heilige Sprache, ein sakraler Vorgang, an dem man partizipierte. Als Ministrant sagte ich treu Messtexte auf wie «ad Deum, qui laetificat juventutem meam». Was das bedeutete, wusste ich nicht. Wenn mir jemand «zu Gott, der meine Jugend erfreut hat» übersetzt hat, sagte mir das als Kind nichts. Aber das Ritual fand ich spannend, seine archaische Wirkung, dieser verdichtete Sinn, der Geborgenheit vermittelte. Natürlich kann man nicht mehr zum Latein zurück. Aber dass Spiritualität auch ein Problem der Sprache ist, sollte man begreifen.

Wenn sich Geborgenheitshoffnungen und Heilserwartungen heute vermehrt im Raum der Politik breit machen, ist das auch ein Versagen der Kirchen?
Ich weiss nicht, ob man diesen Übersprung von der Politik zur Kirche machen kann. Die Kirchen können ja nicht wie politische Parteien dem Volk tolle Programme und neue Köpfe anbieten. Die Programme der Kirchen sind uralt, aber immer noch skandalös, zum Beispiel die Radikalität der Bergpredigt. Heute wird diese aber zu einer Alltagspsychologie des Helfens verniedlicht.

Schriftsteller verwenden gerne religiöse Worte und Bilder. Sind sie die besseren Prediger, die besseren Theologen?
Auch die Schriftsteller werden langweilig, wenn sie in ihren Romanen predigen. Aber von Zeit zu Zeit kommt einer, der so neuartig erzählt, dass es einem den Atem verschlägt. Das ermöglicht plötzliche Erkenntnisse, und ja, auch Erfahrungen der Transzendenz.

Mir ging es an einem Punkt in Ihrem Buch «Das Kalb vor der Gotthardpost» so. Sie schreiben über die Liebe in Friedrich Dürrenmatts Werk: Sie sei «das einzige Gute, das es in einer Welt der unaufhörlichen Brutalität, der Gewalt, des Tötens, der ewigen Schlacht zwischen illusionären Ordnungen und Ideologien gibt», eine Gnade, «zufällig, wunderbar und ohne Zukunft». Dürrenmatt habe sich zeitlebens immer stärker gegen christliche Spuren in seinem Werk gewehrt, doch sein Begriff der Liebe zeuge «von einem namenlosen Höchsten und Anderen. Von dem lässt sich ohne Lüge nur reden, indem man es bestreitet». Selten wurde negative Theologie so schön formuliert. Wie kommen Sie auf so etwas?
(leise) Ja. Ja, das stimmt. Dürrenmatt hat ja als religiöser Autor begonnen, wissentlich und willentlich. Er ist dann irgendwann davon abgerückt, aber nie ganz. In seinem letzten Buch «Durcheinandertal» lautet der letzte Satz: «Das Kind hüpfte vor Freude in ihrem Bauch.» Das ist eine biblische Aussage, Lukas 1,41. Nachdem Dürrenmatt zuvor alle säkularen Welterlösungsideen und alle Gottesbilder dekonstruiert hatte, signalisiert er hier eine bleibende Beziehung zu einem ganz Anderen. Das war seine Not und seine List, sich mit dem Komplex der Transzendenz auseinanderzusetzen.

Schriftsteller pflegen oft eine suchende, gebrochene Beziehung zur Religion. Adolf Muschg hat kürzlich für Aufsehen gesorgt, als er wieder in die reformierte Kirche eingetreten ist. Was sagen Sie dazu?
Ich verstand nicht, warum er das öffentlich macht. Ist das News? Ich bin nie aus der katholischen Kirche ausgetreten, einfach weil dies die Religion meiner Vorfahren ist. Ich bin in diese Religion hineingeboren, das gehört zu mir. Es ist auch eine kulturelle Zugehörigkeit. Aber wenn Muschgs Erklärung Zustimmung findet, hat sie ihren Sinn.

Sie werden am 20. Mai 80. Wie begegnen Sie Alter und Tod?
Das Alter beginnt ja dort, wo man nicht mehr unsterblich ist. Als Kind und als Jugendlicher lebt man in einem Gefühl der Unsterblichkeit. Irgendwann rund um das 30. Lebensjahr kippt das. Ich glaube, Menschen in der Lebensmitte haben mehr Angst vor dem Tod, unter alten Menschen macht sich eher eine Art gesunder Fatalismus breit. Mich stört das Alter nicht. Die Genussfähigkeit bleibt. Vor allem, solange man arbeiten kann, die Arbeit ist ja nicht eine Lebenslast, sondern das grösstmögliche Genussmittel.

Und für Ihre Zufriedenheit im Alter brauchen Sie keine Religion?
Ich habe Ihnen gesagt, dass ich keine Bekenntnisse abgebe (lacht).

Interview: Remo Wiegand, Journalist und Theologe

 

Peter von Matt
Peter von Matt wuchs in Stans im Kanton Nidwalden auf. Er studierte Germanistik, Anglistik und Kunstgeschichte in Zürich und Nottingham. Von 1976 bis 2002 lehrte von Matt als Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Zürich. 1980 war er Gastprofessor an der Stanford University in Kalifornien, 1992/1993 Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin. Er ist verheiratet mit der Literaturkritikerin Beatrice von Matt-Albrecht. Sein neues Buch: «Sieben Küsse. Glück und Unglück in der Literatur», Carl Hanser, München 2017.
Jürg Meienberg

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