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Zufriedenheit

Eine Kolumne der Seelsorger*innen am Inselspital Bern. Von Nadja Zereik.

 

Wie schlimm wäre es zu wissen, wann man stirbt? Die Vorstellung hat für mich eine leicht gruselige Note. Oder wäre es befreiend, den eigenen Tod quasi in der Agenda eintragen zu können? Häufig leben wir unser Leben ja eher so, als hätten wir noch Ewigkeiten vor uns.

Über Jahre besuchte ich im Spital eine wiederkehrende Patientin, die zwar meine Besuche zu schätzen schien, insgesamt aber verbittert war vom Leben und von ihrer Krankheit. Es war auch viel, das sie aushalten musste, oft schmerzhaft und mühsam. Die Momente von höherer Lebensqualität waren selten und fast immer von äusseren Zufällen abhängig. Hinter ihrer Verbitterung vermutete ich auch Tapferkeit und Mut, so wie sie beharrlich fortschritt von Therapie zu Therapie zu Therapie. Aber mehr als eine Vermutung war das nicht.

Kein Wunder, war ich erstaunt, als ich sie entspannt und fast fröhlich antraf. «Sie wissen es schon?», fragte sie mich. Ich hatte gehört, dass sie von einem Therapiestopp gesprochen hatte. «Ich habe mich entschieden», bestätigte sie und lächelte. Dann berichtete sie, wie sie sich mit ihrer Familie zu einem Abschiedsfest getroffen hatte, wie alle gekommen waren, und dass ihr eines ihrer Grosskinder einen Brief zugesteckt hatte. Beim Zuhören wurden die harten, grauen Bilder, die sie durch ihr Erzählen bei mir oft hervorgerufen hatte, auf einmal fliessend und farbig. Ihr Grosskind hat ihr in dem Brief seinen innigsten Berufswunsch verraten. Der Grossmutter allein. Noch wusste sonst niemand davon.

Bei unserer letzten Begegnung wirkte sie immer noch entspannt und trotz Krankheit auch kraftvoll. Ein paar Stunden später starb sie.

Sicher: Der frisch erwachte Lebensmut und die Daseinsfreude der Patientin hat mich berührt, beeindruckt und gefreut. Trotzdem möchte ich immer noch nicht wissen, wann genau oder auch nur wann in etwa ich sterben werde. Ich glaube denn auch vielmehr, es habe bei der Patientin weniger eine Rolle gespielt, den Tod und den nahen Zeitpunkt zu kennen, als selbstbestimmt Nein zu sagen zu ihrem weiteren Leiden ohne Besserungsaussichten. Damit, vermute ich, verlor die Patientin ihre Bitterkeit, und damit gewann sie einen kurzen, letzten Moment Zufriedenheit.

Nadja Zereik, kath. Seelsorgerin

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