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Zum Abschied

Simone Bühler über Resonanz als Spur und Ermutigung, sich weiter zu wagen

Es ist schon nach acht Uhr abends. Die Pflegefachfrau sieht mich kommen und sagt: «So spät noch unterwegs?» Ich mag sie gern, die Abendstunden im Spital. Wenn das Tagesgeschäft vorbei ist, kehrt auf den Abteilungen Ruhe ein. Patient*innen lassen den Tag Revue passieren und manchmal kann ich meinen Besuch mit einem Segenswort für die Nacht verbinden.

Das Anbrechen der Nacht ist für kranke Menschen nicht selten eine Belastung. Störungen gehören zum Spitalbetrieb und schlaflose Nächte sind hier keine Seltenheit. Da ich noch da bin, bittet mich die Pflege um einen Besuch bei einer Patientin, die erst heute auf die Station verlegt worden ist. Sie sei sehr schwach, sterbenskrank und habe aufgrund von einem Hirntumor die Fähigkeit zum Reden verloren. «Sie ist einfach froh, wenn jemand bei ihr ist», erklärt mir die Pflege.

Kurze Zeit später sitze ich am Bett der Frau. Sie reicht mir ihre Hand. Und leise steigen die Worte von einem Abendlied in mir auf, das mich durch meine Kindheit begleitet hat. «Darf ich für Sie ein Lied singen?», frage ich vorsichtig. Die Patientin reagiert unerwartet heftig, sie richtet sich auf und schüttelt den Kopf. Was soll das bedeuten? Vielleicht doch lieber nicht ... Ich erinnere mich an den Austausch mit einer Kollegin: Menschen, die sich nicht in gewohnter Weise äussern können, kommunizieren anders. Ein Kopfschütteln muss durchaus nicht «Nein» bedeuten. Eine Reaktion bedeutet in erster Linie: Da gibt es eine Resonanz. Und Resonanz erleben bedeutet: Diese Spur gibt etwas her. Wag dich einen Schritt weiter.

Ich beginne leise zu summen. Die Frau legt sich hin und entspannt sich. Ich setze die einzelnen Liedstrophen zusammen und singe jetzt ein bisschen lauter. Ich habe das Gefühl, die Patientin schläft, doch als ich mich leise von ihr verabschieden will, öffnet sie die Augen. «Ich komme morgen wieder», verspreche ich ihr und mache mich auf den Heimweg.

Am nächsten Tag scheint sie wacher als am Vorabend. Ich nehme ihre Hand und grüsse, erinnere sie an den gestrigen Besuch. Keine Ahnung, ob sie sich auch erinnert. Soll ich gehen? Soll ich bleiben? Sie reagiert mehr auf Gehen. Ich verabschiede mich und wende mich der Türe zu. Da richtet sie sich unvermittelt im Bett auf und winkt. Sie winkt kräftig und bestimmt und will gar nicht mehr aufhören. Sie winkt und winkt und winkt und ich winke zurück und gehe beglückt und beschenkt davon.

Simone Bühler, reformierte Pfarrerin und Seelsorgerin

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