Entstehung von Sternen in der staubigen Gaswolke der Formation «Pfeiler der Schöpfung» (aktualisierte Infrarot-Aufnahme des James-Webb-Raumteleskops).
Foto: NASA, ESA, CSA, STScI; Joseph DePasquale (STScI), Anton M. Koekemoer (STScI), Alyssa Pagan (STScI)

Zwischen Physik und Kontemplation

Eine Innenschau des Kosmos

Dank dem neusten Raumteleskop erhalten wir tiefere Einblicke ins Universum. Während Forscher:innen von aussen auf die Wirklichkeit blicken, berichten Menschen seit Jahrhunderten von der inneren Schau des Kosmos. Die Brücke dazwischen sei das Staunen, sagt der Astrophysiker Arnold Benz.

Von Daniela M. Meier

Das neuste James-Webb-Raumteleskop liefert tiefere Einsichten ins Universum als bisher. Die Zahlen, welche die Grössen im Universum beschreiben, sind gigantisch. Dieses Raumteleskop wird der Menschheit ganz neue Erkenntnisse liefern, ist der Wissenschaftsdirektor der NASA, Thomas Zurbuchen, überzeugt. Er wuchs im Berner Oberland auf und studierte einst an der Universität Bern Astrophysik.

Kürzlich sagte Zurbuchen in einem Interview von SRF: Wenn er das Universum oder die Natur anschaue, werde ihm jedes Mal bewusst, dass es etwas viel Grösseres und Wichtigeres als uns Menschen gebe – wichtig nicht nur für ihn persönlich, sondern für die ganze Menschheit. Zwar habe dieses Grosse ganz direkt mit uns Menschen zu tun, aber mit Gott habe es aus seiner Sicht nichts zu tun.

Wissenschaftlicher Aussenblick

Hat Gott tatsächlich nichts mit dem Universum zu tun? Diese Frage stelle ich dem Astrophysiker und emeritierten ETH-Professor Arnold Benz. Neben seiner Forschung über die Entstehung der Sterne und Planeten hat er sich jeweils am Feierabend mit Fragen über den Ursprung und Sinn des Kosmos beschäftigt. Für seine Verdienste für den Dialog zwischen Naturwissenschaften und Theologie erhielt er den Ehrendoktor der Universität Zürich. Seine Erkenntnisse hat er in mehreren Büchern veröffentlicht.

Zunächst frage er sich, was für ein Gottesbegriff hinter einer solchen Aussage stehe, antwortet Benz. Natürlich stecke Gott nicht in den physikalischen Gesetzen, aber man könne ihn ja nicht komplett ausblenden, nur weil er nicht zur Erklärung der Vorgänge im Universum beitrage. Jeder neugierige Mensch stelle sich doch die Frage, warum findet eine solch’ komplexe Entwicklung wie das Universum überhaupt statt?


Benz erläutert: «Wenn ich das Universum anschaue, erstaunt mich immer wieder, wie wunderbar es funktioniert. Es ist sehr gut eingerichtet: Es ist nicht selbstverständlich, dass die physikalischen Gesetze und Konstanten so sind, wie sie sind, und dass daraus Sterne und Planeten und sogar Menschen wie wir entstehen können. Das Universum ist ganz fein abgestimmt.» Das könne man als Hinweis auf einen Willen zur Ordnung deuten: So wie es ist, ist es gut. Beim Deuten aber hätten wir den Bereich der Physik verlassen.

Die Forscher:innen beobachten die Wirklichkeit mittels Messinstrumenten und drücken die Resultate in der Sprache der Mathematik aus. Sie blicken quasi von aussen auf die Wirklichkeit, als wären sie getrennt von ihr. Nur so gilt ihre Untersuchung als wissenschaftlich und «objektiv». Dass eine solche Trennung von der Wirklichkeit nicht ganz aufgeht, merken sie, wenn sie die kleinsten Teilchen – sogenannte Quanten – erforschen. Wenn sie nämlich solche Quantensysteme messen, greifen sie in deren subtile Welt ein und ändern deren Verhalten.

Tatsächlich sei dieses Phänomen erst beim Messen als Teilchen oder als Welle nachweisbar, erklärt Benz. Aber dennoch gelte auch für die Quantenwelt, dass die Vorgänge im Experiment – abgesehen vom Zufall – reproduzierbar seien. Für die Wissenschaft ist also entscheidend, dass sie ein Phänomen wiederholt messen kann. Damit erfasst die Wissenschaft nur einen Ausschnitt aus der Wirklichkeit: «Wir wissen bei weitem nicht alles! Sonst gäbe es ja nichts mehr zu erforschen. Vielleicht bleibt auch immer ein Rätsel bestehen.» Können wir Menschen eigentlich Phänomene aus der Quantenwelt wahrnehmen? Ja, natürlich, da gebe es ganz viele, sagt Benz: «Zum Beispiel alle Farben sind Quantenphänomene.»

Religiöse Innenschau

Nicht nur Beobachtungen, sondern auch Geistesblitze eines einzelnen Menschen haben der Wissenschaft schon bahnbrechende Erkenntnisse gebracht. Zum Beispiel entwickelte Michael Faraday (1791-1867) im Labor intuitiv eine Vorstellung von elektromagnetischen Feldern und erst später drückte James C. Maxwell diese Idee in einer mathematischen Formel aus. Diese gilt bis heute als Basis für die Theorien über elektromagnetische Phänomene. Im Unterschied zum rationalen Denken beschert uns die Intuition unvermittelt ein Verständnis eines Phänomens. Von der Intuition – ja sogar der Kunst – erhofft sich der Chef der NASA-Forschung frische Impulse für die Wissenschaft.

Benz pflichtet bei, dass man bei der Intuition etwas direkt wahrnimmt, bevor man es rational überlegt. Bei der Kunst spricht Benz von den teilnehmenden Wahrnehmungen: «Man kann nicht unbeteiligt an die Kunst herangehen; es gibt eine Resonanz zwischen ihr und dem Betrachter.» Kunst, Gefühle und auch religiöse Erlebnisse gehören für Benz zur erweiterten Wirklichkeit, die naturwissenschaftlich nicht fassbar ist. Dieser Bereich der Wirklichkeit ist nur jenen zugänglich, die offen sind dafür.

Sich der Wirklichkeit hin zu öffnen, absichtslos und ohne Zweck, versucht man auch in der Kontemplation; es ist eine Art Innenschau des Kosmos. Manche erleben in der Stille oder bei einem mystischen Erlebnis eine Art Einsicht ins Innerste oder Höchste der Wirklichkeit. Eine solche Schau können sie aber nicht selber herbeiführen – sie ereignet sich einfach.

Eine Art Innenschau scheint zum Beispiel der Schuster und Theosoph Jacob Böhme (1575-1624) erlebt zu haben: Ein göttliches Licht habe ihn ergriffen, worauf er mit seinem «Seelen-Geist» ein zinnernes Gefäss geschaut habe, das ihn in das «Centro» der geheimen Natur führte. Zunächst hielt Böhme diese Schau für eine «Phantasey». Doch danach entdeckte er in der Natur die «Signaturen» und «Figuren», die er im Zentrum gesehen hatte. Für dieses Innerste kreierte Jacob Böhme den Begriff «Ungrund», womit er ausdrücken wollte, dass Gott das Grundlos-Unendliche sei – das ewige Eine, jenseits aller Unterscheidungen.

Wie wirkt die Vorstellung eines Ungrundes auf einen Astrophysiker? Benz antwortet: «Wenig... Böhme hat etwas Mystisches erlebt und beschreibt es auf eine Art, die ich nicht verstehe.» Grundsätzlich sei die Wahrnehmung von nicht-naturwissenschaftlicher Wirklichkeit schwer zu vermitteln, weil es keine allgemeine Sprache gebe wie es die Mathematik für die Wissenschaft sei. Für solche Erlebnisse verwende man Metaphern oder Gleichnisse wie in der Bibel – wobei das Bild allgemein bekannt sein müsse. Benz überlegt: Das zinnerne Gefäss könnte eine Metapher für das Vakuum sein, weil dort nichts ist und in ihm dennoch – für ganz kurze Zeit – virtuelle Teilchen entstehen können. Aber auch in einem Vakuum gelten die physikalischen Gesetzte und Konstanten, macht er deutlich. Zudem beschreibe die Wissenschaft das Vakuum mathematisch exakt.

Könnte eine solche Innenschau des Kosmos wie die Kunst inspirierend sein für die Wissenschaft? Er sehe es eher umgekehrt, findet Benz: «Die exakte Wissenschaft befruchtet die innere Schau.» Unser Weltbild sei eher durch Wissenschaft geprägt als durch Kontemplation.

Aber man dürfe durchaus emotional werden, wenn man sich wissenschaftlicher Erkenntnisse bewusst werde: Es sei doch ein wahres Wunder, wie fein die Teile und Prozesse während der Entwicklung des Universums abgestimmt sind! Staunen lässt ihn auch die unvorstellbare Grösse des Universums; es sei geradezu verschwenderisch gross. Benz zählt noch viele weitere Gründe fürs Staunen auf und schliesst: «Normalerweise sprechen wir Wissenschaftler nicht übers Staunen, sondern nur darüber, was wir herausgefunden haben. Wenn ich über die Erde staune, kann ich sie als Geschenk sehen, und dann denke ich auch über den Schenker-Gott nach. Das Staunen ist die Verbindung zwischen der Physik und dem Ich mit seinen existentiellen Erlebnissen und Fragen.»

UNGRUND
Warum ich Christ bin,
das, ach, lässt sich erklären.
Nicht aber, warum Du
der Christus bist.
Ungrund Liebe.

aus: Kurt Marti, Ungrund Liebe. Radius Verlag, 2004

 

Quellen
Der Schweizer, der nach den Sternen greift: SRF-Interview mit Thomas Zurbuchen (26.6.2022)
Claudia Brink und Lucinda Martin (Hg.): Grund und Ungrund – Der Kosmos des mystischen Philosophen Jacob Böhme, Staatl. Kunstsammlungen Dresden, Dresden 2017.

Buchtipp
Arnold Benz und Ruth Wiesenberg Benz: Das Universum – Wissen und Staunen, Berchthold Haller Verlag, Worblaufen 2019. Weitere Bücher, Audios und Videos auf www.arnoldbenz.ch

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