Von Detlef Hecking, Leiter der Bibelpastoralen Arbeitsstelle des Schweizerischen Katholischen Bibelwerks am Religionspädagogischen Institut der Universität Luzern, Bibliodrama- und Bibliologleiter.

Vermutlich haben Sie das auch schon erlebt: Sie sitzen im Gottesdienst. Die Lesungen und das Evangelium werden vorgelesen. Doch die Texte rauschen an Ihnen vorbei, ohne dass Sie so richtig mitbekommen, worum es eigentlich geht. Oder Sie lesen selbst in der Bibel und finden einfach keinen Zugang, weder zum Sinn des Textes überhaupt noch für Sie persönlich. Ich wette: Wenn Sie demselben Bibeltext in einem Bibliolog begegnen, passiert das nicht. Ganz ohne Mühe sind Sie plötzlich mittendrin im Text. Ohne grosses Herumrätseln verbinden sich Ihre eigenen Lebens- und Glaubenserfahrungen mit den Menschen in der Bibel. Und dafür müssen Sie nicht einmal kompliziert diskutieren, müssen sich nicht «outen» mit irgendwelchen Bekenntnissen. Sie können spontan reagieren, wie Ihnen der Schnabel gewachsen ist (oder auch stillbleiben).

Bibliolog wirkt: Die Bibel und Ihr Leben berühren sich. Unverhofft, absichtslos, frei. Ich kenne viele Methoden der Bibelarbeit. Salopp und pragmatisch ausgedrückt: Bibliolog hat das beste «Preis-Leistungs-Verhältnis», ist niederschwellig und für viele verschiedene Menschen, Gruppen und Situationen gleichermassen geeignet. Nach jüdischer Tradition bestehen Bibeltexte aus dem «schwarzen Feuer» (der Schrift) und dem «weissen Feuer» (dem Leer-Raum zwischen den Buchstaben, Sätzen, Abschnitten). Bibeltexte sagen vieles, doch noch mehr steht ungeschrieben zwischen den Zeilen: Wie fühlen sich Eva und Adam, als Kain nach dem Mord an seinem Bruder wegzieht (Gen 4)? Was beschäftigt Maria von Magdala, wenn andere Jünger Jesu die besten Plätze im Himmelreich unter sich aufteilen wollen (Mar 10,35–45)? Was denken eine Frau, ein Mann, ein Kind in der Gemeinde von Korinth, wenn sie bzw. er eine schwierige Passage aus einem Paulusbrief hören (1 Korinther 1)?

Solche Leerstellen des Textes können im Bibliolog gefüllt werden – mit der Einfühlung der Mitwirkenden, die sich äussern: «Mich, Maria von Magdala, beschäftigt gerade …» Da spielt unsere Fantasie eine grosse Rolle. Das ist nicht der (geschriebene) Bibeltext, aber das «weisse Feuer». Und wenn dieses zu lodern beginnt, wird Bibel für heute lebendig – als kein in Stein gemeisselter Text, sondern als eine Schrift, die mit Leben gefüllt, gelebt werden will. Zur Wirkung des Bibliologs trägt bei, dass niemand in eine Expertenrolle gerät: Kluge Gedanken zum Text, Bibelwissen überhaupt – das alles ist im Bibliolog unwichtig. Unsicherheiten, die in anderen Formen von Bibelarbeit leicht aufkommen («die anderen wissen doch viel mehr als ich», «was ich denke, ist doch uninteressant», «das ist mir zu tiefschürfend/oberflächlich/fromm»), spielen im Bibliolog keine Rolle. Dafür die spontanen Eindrücke, Perspektiven, Reaktionen (und auch das stille, innere Mitgehen) aller Beteiligten.

Bibliolog ist deshalb oft witzig, spannend und auf jeden Fall unterhaltsam. Dass ein Bibliolog nicht ins Beliebig-Unverbindliche abgleitet, dafür sorgt vor allem der Bibeltext selbst – und die Leitung durch gute Vorbereitung. Damit passt Bibliolog zu dem, was Glauben heute immer mehr ausmacht: Individualität, Autonomie und Kreativität. Gleichwertigkeit, Begegnung und Kommunikation auf Augenhöhe. Freiheit. Aber eben auch persönliches Einlassen auf einen Bibeltext als Gegenüber und Interesse an den Perspektiven der anderen Teilnehmer*innen. Für einen Moment nur, aber trotzdem verbindlich – alle tragen das ihre bei: Begegnung mit der Heiligen Schrift, Kirche auf Zeit.

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