«Kinder haben einen eigenen Sensor für Glaubensfragen»

 

Wie in Kindergarten und Schule über Gott und Glaubensfragen gesprochen wird.

Interviews und Redaktion: Anouk Hiedl
Fotos: Pia Neuenschwander

Berührende Glaubensvielfalt

Im Schulalltag tauchen religiöse Themen meist im Zusammenhang mit Feiertagen, Ritualen oder dem Lauf des Lebens auf. Geliebte Menschen oder Haustiere sterben, da ist es unvermeidlich diese Thematik aufzunehmen, Raum zu geben und sich auf die Suche nach den eigenen Erfahrungen, dem eigenen Glauben zu machen.

Bei den Kindern beobachte ich immer wieder ein reges Interesse daran, was ihre «Gspänli» glauben und feiern. Sie hören aufmerksam zu, versuchen zu verstehen und/oder Analogien in ihrer eigenen Religion und ihrem eigenen Glauben zu finden. Sie stellen Fragen, denken intensiv nach und berichten von eigenen Erfahrungen. Wir freuen uns gemeinsam, zweifeln, grübeln, … Manchmal weint man gemeinsam und tröstet sich gegenseitig.

Die Kinder sind daran interessiert, ihren Erfahrungshorizont zu erweitern und sich auch selbst einzubringen. Da die Kinder aus unterschiedlich religiös geprägten Familien kommen, versuche ich, vor allem Fragen zu stellen. Wichtig ist mir, dass wir einander aufmerksam zuhören, ohne zu werten. Immer wieder staune ich, dass Kinder einen ganz eigenen Sensor für Glaubens- und Religionsfragen besitzen. Und dies unabhängig davon, ob oder welche religiöse Prägung sie haben.

Meine Aufgabe besteht darin, einen offenen, vertrauensvollen Rahmen zu schaffen, in dem sich jedes Kind getragen fühlt und bereit ist, sehr Persönliches von sich zu erzählen. Im besten Fall kann ich mich ganz zurücknehmen und nur noch mit wenigen Fragen leiten. Oft sind es auch für mich sehr lehrreiche und berührende Gespräche.

Sibylle Wüest (45), Lehrerin in Zollikofen (heute 1./2. Klasse, früher 3./4. Klasse)

Offener Austausch

Im Kindergarten kann ich keine christlichen Lieder singen oder beten wie mit meinen eigenen Kindern. Ich kann meiner Klasse aber mit meiner Glaubens- und Lebenseinstellung begegnen und die Kinder zwei Jahre lang beim Philosophieren darüber begleiten.

Ich staune immer wieder, wie offen die Kinder über den Tod sprechen und dabei oft nicht gross unterscheiden, ob das Grosi gestorben ist oder ob sie auf dem Weg eine tote Maus gesehen haben. Aus ihren Gesprächen über Gott merke ich, dass es Kinder gibt, denen das Wort «Gott» nichts sagt und andere, die ihn sofort mit der Kirche verbinden.

Vereinzelt erzählen Kinder auch von biblischen Geschichten, die wir dann etwas vertiefen – die Schöpfungsgeschichte oder Noah und die Sintflut sind beliebt. Im Dezember begegnen wir immer der Weihnachtsgeschichte. Zu Ostern gehören heidnische Bräuche wie der Osterhase oder bunte Eier. Die Kreuzigung Jesu mache ich nie zum Thema. Die spannendsten Gespräche sind oft nicht geplant oder vorbereitet – das ist immer wieder eine Herausforderung.

Eine Frage löst nicht selten weitere Fragen und viele Antworten aus. Oft habe auch ich keine abschliessenden Antworten und will bewusst verschiedene Aussagen und Feststellungen zulassen. Nicht selten erwarten die Kinder von mir genaue Antworten zu Glaubensfragen, doch ich gebe möglichst offene Antworten. Ich verstehe mich als Gesprächsleiterin und versuche, alle, die etwas sagen möchten, zu Wort kommen zu lassen, andere eventuell auch zu bremsen oder mit passenden Fragen weiter zu philosophieren.

Mein Ziel ist, dass die Kinder selbst nachdenken, ihre Wahrnehmung erweitern und ihre Haltung zu einem Thema äussern dürfen und können. Wichtig dabei ist, andere Meinungen zu akzeptieren.

Regula Meister-Graber (50), Kindergärtnerin in Bätterkinden

Auf Ritualen aufbauen

Die Glaubensfrage gehört meiner Meinung nach nicht in die Schule, sondern in die Welt der Konfessionen, und da sind Trennung und Disput. Den Glauben an eine sichere Stimme in mir zu fördern, ist jedoch eine zentrale Bildungsaufgabe. Um diese Stimme zu hören und ihr zu trauen, braucht das Kind das Gefühl, die Gewissheit und die Erfahrung, gehalten zu sein, geschützt zu werden und den nötigen Bewegungsraum zu haben.

An der Heilpädagogischen Schule in Biel nennen wir diese Qualitäten Ort des Feierns, der Begegnung und des Lernens. Halt finden wir durch Rituale, die uns durch den Tag, die Woche, das Jahr sowie durch Freud und Leid leiten. Sie geben uns Sicherheit im Zeitenlauf und stärken das Vertrauen ins Leben. So sind Rituale nicht ein hübsches Supplément, sondern die Grundlage jeder Gemeinschaft. Schutz empfinden wir, wenn wir zeigen dürfen, wie wir sind und wozu wir bestimmt sind, ohne dass wir beurteilt und bewertet werden, und wenn wir dafür Beachtung und Wertschätzung erfahren.

Wir dürfen auf unsere Stimme vertrauen. Das tägliche Morgenritual bietet einen Rahmen dazu, es ermöglicht Begegnungen und Beziehungen, Nähe zu mir, dem anderen und der Welt. Wir werden wahrgenommen, mit unseren Stärken und Schwächen. Erleben Kinder den Raum, in dem sie wirksam sein und lernen können, als offen und empfangend, ist es leicht, auf die innere Stimme zu hören und sich in der Tätigkeit und in der Arbeit selbstbestimmt und eigenmächtig wahrzunehmen. In der praktischen Arbeit zeigt sich dann, wie es gelungen ist.

«Gott ist die Stimme in mir, die mich aufruft, das zu werden was ich werden zu können bestimmt bin, was er gemeint hat mit mir.» (Aus: Pinchas Lapide, Viktor Frankl: Gottessuche und Sinnfrage, 2005)

Anton Wagner (66), ehemaliger Leiter der Heilpädagogischen Tagesschule Biel

Eindrücken Ausdruck geben

Meine Arbeit erlebe ich stark unterstützend für die Sorge der Seele der Betroffenen. Ich besuche Familien unterschiedlicher Religionen zu Hause, wo ich allfällige Ressourcen miteinbeziehen kann, oder wir treffen uns in der Wald-Kindertrauergruppe. Ich kläre ihre Bedürfnisse ab und baue Vertrauen auf.

Kinder unterstütze ich darin, mit ihren vielfältigen Trauergefühlen in Kontakt zu kommen und diese für sie passend auf kreative Weise auszudrücken. Kinder sind in ihrer Trauer «Pfützenhüpfer» – sie gehen sehr spontan in ihre zum Teil heftigen Trauergefühle hinein und kommen genauso schnell wieder heraus. Dieses «Rein und Raus» ist eine angeborene, sehr gesunde Ressource, die es zu pflegen gilt. Bei einem Todesfall ist es wichtig, Kinder in Handlungen gut einzubeziehen, statt sie auszuschliessen.

Ich höre den Kindern zu, vermittle altersentsprechende sachliche Informationen, helfe ihnen dabei, ihre Trauergefühle wahrzunehmen und sie kreativ auszudrücken. Es ist für Kinder sehr wichtig, den verstorbenen Menschen neu «verorten» zu können. Das braucht Zeit. Ich unterstütze die Kinder in ihren eigenen Bildern, solange ich diese verantworten kann. Meine persönlichen Vorstellungen spielen dabei nur eine kleine Rolle. Wir haben je nach Religion Bilder, die uns helfen, mit dem Verlust weiterzuleben. Was wirklich sein wird, wissen wir nicht. Wichtig ist die Strategie des aktiven Trauerprozesses statt der Verdrängung. Das gelingt Kindern in der Regel sehr gut. Für sie und auch für Jugendliche kann es wichtig sein, ausserhalb der trauernden Familie eine Anlaufstelle zu haben, wo sie ihren Gefühlen unbefangen Ausdruck geben können.

Dies kann eine Fachfrau Trauerbegleitung, aber auch eine dem Kind vertraute Person sein. Eine besonders starke Ressource dabei ist die Natur – draussen kann man Gefühlen Ausdruck geben und Kraft finden, wie es drinnen kaum möglich ist. Kinder brauchen Kinder. Daher sind angeleitete Kinder- und Jugendtrauergruppen wirkungsvoll.

Christine Leicht (60), Kinder- und Familientrauerbegleiterin, Bern

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