Pride-Parade in Mexiko. (Image by Gabriela Serralde from Pixabay)

"Gott ist queer"

AUF DEM EVANGELISCHEN KIRCHENTAG IN NÜRNBERG HÄLT PASTOR QUINTON CEASAR EINE NOTWENDIGE PREDIGT

Auf dem evangelischen Kirchentag in Nürnberg hält Pastor Quinton Ceasar eine notwendige Predigt

Die Aussage "Gott ist queer" hat nach dem Schlussgottesdienst des Evangelischen Kirchentages am 11. Juni nicht nur Widerspruch ausgelöst, sondern rechte (Nicht-)Christ:innen zu Hasskommentaren im Internet herausgefordert.
Das allein zeigt, wie notwendig Qinton Caesars Predigt war, die die hohle Selbstgewissheit einer samtweichen bürgerlichen Christlichkeit offenlegt, die mittlerweile selbst Segensbüros für jedermenschs Bedürfnis einer zur Servicekirche unbiblisch transformierter Institution anbietet.
Natürlich: Das trifft auf viele nicht zu. Zum Glück! Und die Teilnehmer:innen am Gottesdienst in Nürnberg verstanden Quinton Ceasar sehr gut und spendeten dankbar Applaus. - Quinton Ceasar ist Pastor im ostfriesischen Wiesmoor.
"Wir vertrauen eurer Liebe nicht!" so ist die Predgit betitelt und zeigt das allzu berechtigte Misstrauen des aus Südafrika stammenden schwarzen Theologen - gerade auch hinsichtlich eines an so genannte politische Zeitenwenden und die vermeinlich harmlose Mitte allzu angepassten Christentreffens.
Die Predigt Ceasars war Gegenpol dazu und zur Eröffnung des Kirchentages mit einem Bundespräsidenten, der das biblische Motto des Kirchentages "Jetzt ist die Zeit" verkehrte und missbrauchte, indem er sich zur Aussage verstieg, dass jetzt die Zeit für Waffen sei.
Quinton Ceasar kritisiert den "Happyland-Zustand" ("Gott liebt alle Menschen gleich"), er vertraut der Liebe der weißen Wohlstandschrist:innen nicht, dem vermeintlichen Konsens einer sich selbst als Mitte definierenden politischen Klasse, die sich schnell einig ist, Kriege führt, Propanda dafür betreibt und die Aktivist:innen der "Letzten Generation" kriminalisiert.
Ceasar aber sagt und folgt damit dem roten Faden der biblischen Befreiungsbotschaft: Wir alle sind die Letzte Generation; we don't leave one to die; wir schicken ein Schiff und empfangen Menschen in sicheren Häfen. Ja, und: Gott ist queer. - All dies gehört zusammen und ist - ganz im Gegenteil zu dem, was ein Fachmann im Deutschlandfunk behauptete - gerade kein Verstoß gegen das Gebot, sich kein Bild von Gott zu machen. Dies Ceasar vorzuhalten, grenzt, gelinde gesagt, an die Grenze des Erträglichen, nachdem wir mit einengenden und reaktionären Gottesbildern und Alleinvertratungsansprüchen seelisch totgeschlagen wurden. Ceasars Predigt befreit Gott aus den angestammten und falschen Bildern, die mensch von ihm/ihr machte.

Bevor nun der Wortlaut seiner aufrichtenden und herausfordernden Predigt dokumentiert wird, sei hier noch der Kommentar der Freund:innen vom Institut für Theologie und Poltik in Münster zum Kirchentag in Nürnberg angeführt. Er passt gut in diesen Zusammenhang. Benedikt Kern schreibt uns am 21. Juni:

"Am 7.-11. Juni fand in Nürnberg der Deutsche Evangelische Kirchentag unter dem Motto „Jetzt ist die Zeit“ statt. Das ITP hat mit einer selbstorganisierten Veranstaltung zu Perspektiven aus dem globalen Süden auf den Ukrainekrieg mit Rita Segato (Argentinien), Sandiswa Lerato Kobe (Südafrika) und Michael Ramminger (ITP) und einer Präsentation unserer Materialien und Publikationen am Stand der Rosa-Luxemburg-Stiftung daran teilgenommen. Der Vortrag von Michael Ramminger auf dem international besetzten Panel ist bereits auf unserer Homepage nachzulesen, die anderen Statements werden in Kürze folgen.
In der medialen Berichterstattung wurde dieser Kirchentag als besonders „politisch“ besprochen. Es ist zwar richtig, dass eine Vielzahl von PolitikerInnen der verschiedensten parlamentarischen Parteien zum Kirchentag eingeladen und dort durch ihre Auftritte sehr präsent war. Das macht einen Kirchentag aber noch nicht politisch, zumindest nicht im Sinne einer verändernden Praxis hin zu mehr Gerechtigkeit, Frieden, Gleichheit, so wie wir das Wort verstehen würden. Der Kirchentag, dessen Geschichte eng verbunden war mit der Friedensbewegung, was noch durch eine Friedensdemo in Nürnberg sichtbar wurde, ist mittlerweile vor allem zur Plattform gegenwärtiger Regierungspolitik geworden. So eröffnete beispielsweise der Bundespräsident die Großveranstaltung damit, dass jetzt die Zeit dafür gekommen sei, Waffen in die Ukraine zu liefern. Der Chef der Deutschen Bank hielt eine Bibelarbeit ab, Scholz und Baerbock verteidigten die europäische Abschaffung des Asylrechtes und in der Halle zu Migration auf dem „Markt der Möglichkeiten“ hatten das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge und die Bundespolizei jeweils Stände. Dass ein Kirchentag, an dessen Spitze der ehemalige Verteidigungs- und Innenminister Thomas de Maizière steht, jeglichen Kompass verloren hat und nur noch eine theologisch beliebige Darstellungsplattform zur Verdoppelung staatlicher Politik ist, zeigt die dramatische Situation der Kirche in ihrem Ringen um gesellschaftliche Bedeutung. 
Vielleicht ist es also wieder Zeit für eine autonome Sammlung der verbliebenen kritischen Positionen von ChristInnen jenseits dieser kirchlichen Großveranstaltungen."

Und das sagte Quinton Ceasar im Gottesdienst am 11. Juni zum Abschluss des Evangelischen Kirchentages - und Millionen hörten ihm zu - wie schön:

"Liebe Gemeinde, liebe Geschwister hier auf dem Hauptmarkt, daheim und unterwegs,ein Satz aus meiner Kindheit zaubert mir immer ein Lächeln auf mein Gesicht: „Oe haliha, moetie soe liegie, daai kind!“
Er bedeutet so viel wie: „Hey du, lüg nicht so.“
„Hey du, lüg nicht so.“
Ich werde Euch heute keine Lügen erzählen. Und deshalb sage ich Euch: Dieses melodische „Alles hat seine Zeit“ – das ruft bei mir Unbehagen hervor. Es macht mich nervös, ängstlich und auch ärgerlich!

Menschen, die Veränderungen anstreben, Aktivist*innen und marginalisierte Menschen, bekommen oft zu hören: „Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt. Hab Geduld. Vertraue dem Prozess. Wir müssen alle mitnehmen. Alles hat seine Zeit.“Moetie soe liegie, daai kind! Bitte lügt uns nicht an!
Ich werde euch heute nicht anlügen:Wir können nicht mehr warten. Nicht bis morgen oder nächste Woche. Oder das nächste Mal, wenn wir eine andere Regierung, wenn der Rat der EKD, wenn unsere Synoden,  wenn das Präsidium des Kirchentages gewählt werden, diverser und inklusiver besetzt werden. 

Wir können nicht warten. Jesus sagt nicht: „Alles hat seine Zeit“,  Jesus sagt: „Die Zeit ist jetzt!“
Wenn Jesus sagt: „Jetzt ist die Zeit!“, dann ruft er zur Veränderung auf, zu mutigen Entscheidungen, die wirklich Veränderung bewirken.
Ja, es gibt sie, die entscheidenden Momente. Und ja, du kannst wählen zwischen richtig und falsch. Das lernen wir von Jesus, der sagt: „Die Zeit ist jetzt!“

Ich werde Euch heute nicht anlügen.
Nicht wenn es um Zeit. Und nicht wenn es um Liebe geht.
Lasst uns über die Liebe sprechen. Wir zitieren gern mal „Glaube, Hoffnung, Liebe.“Wir sagen: „Die Liebe leitet uns.“ Wir singen: „All you need is love.“ Und wir versprechen: „Wir, die das Gute wollen, sind mehr.“
James Baldwin, der Schwarze und schwule Schriftsteller und Aktivist hat gesagt: „Die Liebe war noch nie eine Massenbewegung.“ Und er hat damit nicht gelogen.
Die Welt wird von der Liebe und der Leidenschaft einiger weniger Menschen zusammengehalten. Und darum geht es doch!

Wie James Baldwin, bin ich kein Pessimist.
Ich weiß, wie es ist, diskriminiert zu werden. Ich und andere wie ich, wir kennen die Grenzen und Schwächen des Satzes: „Liebe deinen Nächsten.“
Deshalb tanze ich lieber zu Tina Turners „What's love got to do with it“, „Was hat das denn mit Liebe zu tun?“
Und deshalb halte ich es lieber mit Bell Hooks, die sagt: „There can be no love without justice.“ „Ohne Gerechtigkeit gibt es keine Liebe.“

„Alles hat seine Zeit“ oder „All you need is love“ erinnert mich aber eher einen Happyland-Zustand.
Happyland, das ist ein Wort von Tupoka Ogette, die damit beschreibt, wie sich Menschen fühlen, die keine Diskriminierungen erfahren und auch nicht sehen, dass andere sie erfahren.
Happyländer*innen, also Leute aus Happyland, sagen: „Gott liebt uns alle gleich.
Happyländer*innen sagen: „Ich sehe keine Hautfarbe, keine Behinderung, kein Geschlecht.“
Happyländer*innen sagen: „Jesus Christus hat uns alle durch seine Liebe befreit.“ Sie sagen: „Die Kirche ist ein sicherer Ort für alle.“ 

Moetie liegie daai kind! Hey, lügt uns nicht an.  Es ist leichter, von befreiender Liebe zu predigen, als eine Liebe zu leben, die befreit.
Doch wenn ihr von der Liebe predigt, die alles besiegt, und trotzdem meine Geschwister und mich diskriminiert – wegen unseres Einkommen, unserer Hautfarbe, unserer Behinderung oder unserer queeren Identität. Dann sagen wir: Moetie liegie daai kind!

Meine Geschwister und ich – wir sind Kirche. Wir sind kein Gegenüber, brauchen keine Nächstenliebe oder Zuwendung von oben herab. Wir sind Kirche.
Und meine Geschwister und ich sagen: Jetzt ist die Zeit! Wir vertrauen eurer Liebe nicht. Wir haben keine sicheren Orte in euren Kirchen.

Ich werde euch heute nicht anlügen.
Die Zeit ist jetzt, zu sagen:
Wir sind alle die Letzte Generation.
Jetzt ist die Zeit, zu sagen: Black lives always matter.
Jetzt ist die Zeit, zu sagen: Gott ist queer.
Jetzt ist die Zeit, zu sagen: We leave no one to die.
Jetzt ist die Zeit, zu sagen: Wir schicken ein Schiff.
UND wir empfangen Menschen in sicheren Häfen. Safer spaces for all. 

Gott ist immer auf der Seite derer, die am Rand stehen, die nicht gesehen oder nicht benannt werden. Und wenn Gott da ist, dann ist da auch unser Platz.
Gott ist parteiisch.
„Check your privilege!“
Wir haben alle Privilegien und können sie für mehr Gerechtigkeit einsetzen.
Wir können füreinander Verbündete sein.
Wir sind hier. Wir sind viele. Wir sind nie wieder leiser.

Ich weigere mich, euch heute anzulügen.
Denn es ist auch die Zeit für das Ende der Geduld.
Jetzt ist die Zeit, um uns an die befreiende Liebe von Jesus zu kleben und nicht an Worte, an Institutionen, Traditionen und Macht, an Herkunft und Heteronormativität.

Klebe dich an die Liebe, die befreit. Klebe dich an die Liebe Gottes, die befreit. „Liebe war noch nie eine Massenbewegung.“
Aber ich bin Optimist.
Amen."

Quinton Ceasars Predigt bewegt uns auch in der Schweiz und auch in Biel/Bienne.

Peter Bernd

 

 

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