Der lächelnde Engel (Kathedrale in Reims). Foto: Michael Eichmann

Das Lächeln

Engel, Heilige und Kinder

Reims, 19. September 1914: Der Kopf des Engels stürzte unter dem Beschuss der Deutschen auf den Boden und zerbarst. Das Bild des geköpften Gottesboten – «l’ange décapité» - erschien in den europäischen Zeitungen und galt als Inbegriff barbarischer Zerstörung im Ersten Weltkrieg. Es war auch nicht irgendein Engel unter den 2300 Skulpturen, welche die Kathedrale in Reims schmücken. Nein, es war der lächelnde Engel am Eingang des Westportals, «l’ange au sourire».

Von Béatrice Eichmann-Leutenegger

Jeder, der die Krönungskirche der französischen Herrscher in der Champagne besucht, will den 1926 restaurierten Engel mit seinem Lächeln sehen. Wie kann er die Sorgen der Menschen aller Zeiten bannen? Mit einem Lächeln, in Stein gehauen und doch von überirdischer Leichtigkeit.

Fast hätte ich ein anderes Lächeln übersehen. Aus Neugier stellte ich mich hinter die Schar der Schulkinder, die den Erklärungen der Stadtführerin zuhörten.
 

Wisst ihr, warum sie lächelt?


Vor dem Hauptportal der Notre-Dame in Chartres wies sie auf die unzähligen Figuren hin, die den Menschen des Mittelalters, des Lesens ungewohnt, nicht nur die biblischen Ereignisse bildhaft erläuterten, sondern auch das damalige Wissen in Kunst, Naturwissenschaft und Philosophie.

Lebhaft erzählte sie, lobte gute Antworten der Kinder und zeigte schliesslich auf eine Frauenfigur, die vor sich hinlächelte: die Königin von Saba, welche auch im Koran auftaucht. «Wisst ihr, warum sie lächelt?», fragte die Stadtführerin. «Sie trägt ein Geheimnis mit sich, sie ist schwanger.» Und sie wies auf die zarte Wölbung des Unterleibs hin.

Thérèse Martin (1873–1897) ist im Norden Frankreichs noch immer gegenwärtig. In den Kirchen hängt ihr Bild, ist ihr ein Seitenaltar zugedacht. Meist hat man ein Foto ausgewählt, das sie als Karmelitin zeigt; manchmal aber erblickt man die Fünfzehnjährige, welche sich ausnahmsweise das Haar hochgesteckt hat, um älter zu erscheinen. Diese Aufnahme soll wenige Tage vor dem Eintritt in den Karmel von Lisieux gemacht worden sein: im April 1888.

«Schau mal, ihr pfiffiger Blick», sagen wir erstaunt und betrachten die anmutigen Gesichtszüge. Ja, Thérèse war intelligent und eigensinnig, was man wegen der posthumen Verkitschung der Heiligen gerne übersieht. Immerhin sollte sie 1997 zur Kirchenlehrerin erhoben werden.

Auf den späteren Aufnahmen, die eine Mitschwester gemacht hat, setzt sich ihr Lächeln in schwächerer Form fort, bis es schwindet, weil die Tuberkulose ihren Tribut fordert. Erst auf dem Totenbett kehrt es wieder zurück.

Mère Agnès de Jésus, die der Sterbenden beigestanden war, sagte später: «Nach ihrem Tod blieb ein himmlisches Lächeln auf ihrem Gesicht. Sie war bezaubernd schön…». Thérèses Sehnsucht mündete ins göttliche Meer.

Zwanzig Jahre vor ihrer Geburt, 1853, hatte Gustave Flaubert in einem Brief an seine Geliebte, Louise Colet, geschrieben: «Eine Seele misst man am Umfang ihrer Sehnsüchte, so wie man die Kathedralen nach der Höhe ihrer Türme beurteilt.»

Eine Sehnsucht nach dem Höchsten trieb die Bauleute an, die in der Meeresbucht des Atlantiks, an der Grenze zwischen Normandie und Bretagne, eine Tat sondergleichen wagten.

Noch heute kann man sich nicht vorstellen, wie es gelingen konnte, die vielfach verschachtelte Architektur von Mont Saint-Michel zu verwirklichen. Verwirrend ist das Labyrinth von Gängen, Treppen, Tunnels, klösterlichen Räumen und Kirchen, dazwischen unversehens ein Garten, den eine kecke Möwe als Aufenthalt erwählt hat.

Wer den Fehler begeht, erst mittags die steilen Treppen hochzusteigen, sieht sich eingezwängt in die Schar der Touristen. Zum Glück waren wir frühzeitig aufgebrochen und stiegen um die Mittagszeit bereits wieder hinunter.
 

Lasset die Kinder zu mir kommen!


Uns entgegen kam der Zug der Leidenden, keuchend und schwitzend, unter ihnen ein Trüppchen von ca. fünfjährigen Kindern mit ihren Aufseherinnen. Die Kleinen hielten sich in Viererreihen an den Händen gefasst, die Gesichter rotglühend trotz der Sonnenhütchen. Einige stapften ergeben, ohne nach rechts oder links zu schauen, die hohen Treppenstufen hoch, welche von den kurzen Beinchen Kraft erforderten. Einige blickten um sich, winkten uns zu, lächelten tapfer, was ans Herz rührte. «Lasset die Kinder zu mir kommen!».
 

Die Serie von Béatrice Eichmann- Leutenegger im Überblick

Buchhinweis zur Serie: Walter Nigg, Grosse Heilige. Diogenes Tb, Zürich 1986 (Erstausgabe 1947)

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