Wie organisieren sich Religionsgemeinschaften, die nicht vom Staat anerkannt sind? Dazu hat der Kanton Bern eine Umfrage lanciert. David Leutwyler* erklärt, was die Resultate für den Kanton und für die Landeskirchen bedeuten.
Interview: Sylvia Stam
«pfarrblatt»: Ende Juni hat der Kanton Bern einen Religionsbericht veröffentlicht. Was steht da drin?
David Leutwyler: Wir haben die Religionsgemeinschaften befragt, die auf unserer digitalen Religionslandkarte mit Standort und Kontaktangaben erfasst sind. Der Online-Bericht zeigt, was ihre wichtigsten Aktivitäten sind, wie sich die Religionsgemeinschaften finanzieren oder wie viele Mitglieder sie haben. Das ist die Basis, um zu erkennen, wo es Schnittstellen zwischen Religionen und Staat gibt und wo wir als Kanton eine Aufgabe haben.
Solche Schnittstellen gibt es in der Spital- und Gefängnisseelsorge, Bildung, bei den Friedhöfen. Können Sie ein Beispiel nennen, wo der Kanton hinschauen muss?
Kürzlich hat sich jemand beklagt, dass er auf seinem Niederlassungsausweis seine Religion nicht angeben kann. Aus steuertechnischen Gründen kann man nämlich nur ankreuzen, dass man reformiert, katholisch, christkatholisch oder «staatlich nicht anerkannt» ist. Darüber hinaus haben die Gemeinden kein Recht, die Religionszugehörigkeit zu erfragen. Mit diesem Anliegen kommt jedoch eine andere Perspektive herein, nämlich ein Gefühl von Diskriminierung. Da müssen wir hinschauen: Was heisst das? Wie gehen wir damit um?
Ein Beispiel im Bereich der Friedhöfe?
Viele Friedhöfe müssen sich heute rechtfertigen, wie sie ihre grossen Parkanlagen nutzen, weil es immer weniger Erdbestattungen gibt. Für Muslim:innen sind Erdbestattungen die Norm. Eine Gemeinde weiss heute nicht, wie die Anzahl muslimischer Bürger:innen in einer gewissen Alterskategorie verteilt ist, weil sie die Religionszugehörigkeit nicht erfragen darf. Darum kann man schwer vorhersehen, wie viele Menschen innerhalb der nächsten Jahrzehnte eine Erdbestattung brauchen. Für die Planung der Friedhöfe wäre das jedoch hilfreich.
Was sind für Sie die interessantesten Resultate der Befragung?
Auffallend ist der enorm hohe Anteil an Freiwilligenarbeit, auch bei Aufgaben von «Pfarrpersonen»: religiöse Rituale durchführen, Hochzeiten oder Trauerfeiern gestalten. Dass jemand das ehrenamtlich macht, ist für landeskirchlich geprägte Menschen ungewohnt, kommt aber bei privatrechtlich organisierten Religionsgemeinschaften öfter vor.
Auch Sekretariatsarbeiten oder die Reinigung der sakralen Räume sind Aktivitäten von Freiwilligen. Da wird eine Bindung zur eigenen Gemeinschaft sichtbar, die überrascht und die mich beeindruckt.
Welche Gemeinsamkeiten zu den öffentlich-rechtlichen Religionsgemeinschaften sehen Sie?
Der grosse Teil dieser Gemeinschaften funktioniert gleich wie die anerkannten Landeskirchen. Es gibt ein religiöses Leben, das gestaltet wird, man begleitet Menschen in existenziellen Lebenssituationen wie Geburt, Übergang vom Jugendlichen zum Erwachsenen, Hochzeit, Todesfall. Darüber hinaus sind Religionsgemeinschaften da für Menschen, die nicht so gut integriert sind, seien dies Kinder und Jugendliche, die Betreuung brauchen, bedürftige Menschen, ältere Menschen etc.
Was sind Unterschiede?
Für jene Gemeinschaften, die erst seit 1975 hier ansässig sind, gibt es keine gesetzlichen Grundlagen. Als Vereine organisieren sie sich selber, mit geringen finanziellen Mitteln und wenig Möglichkeiten, die Mitarbeitenden auszubilden.
Die Landeskirchen bekommen Geld aus den allgemeinen Steuern und aus denen von juristischen Personen, zudem werden die Kirchensteuern natürlicher Personen für die Landeskirchen eingezogen. Davon sind die anderen Religionsgemeinschaften weit entfernt. Dem stehen aber auch Pflichten gegenüber: Im Kanton Bern ist geregelt, was eine Leitungsperson in einer öffentlich-rechtlich anerkannten Landekirche erfüllen muss: Er/Sie muss zum Uni-Abschluss hinzu eine Prüfung absolvieren, die vom Staat initiiert ist. Das ist ein hoher Anspruch. Bei anderen Religionsgemeinschaften gibt es keinerlei rechtliche Grundlage. Der Staat kann beispielsweise nicht vorgeben, wie ein Imam ausgebildet sein soll.
Was war die Motivation des Kanton, die Situation privatrechtlicher Religionsgemeinschaften zu erheben?
Der Kanton Bern hat Anfang 2020 ein neues Landeskirchengesetz verabschiedet. Dieses regelt das Verhältnis zwischen den öffentlich-rechtlich anerkannten Religionsgemeinschaften und dem Kanton. In diesem Zusammenhang kam im Grossen Rat die Frage auf: Was ist mit den anderen Religionen? Man wollte diese nicht unter das gleiche Gesetz subsumieren, kam aber zum Schluss, dass man andere Gemeinschaften und ihre Leistungen für die gesamte Gesellschaft mehr in den Blick nehmen und fördern möchte.
Was geschieht nun mit den Resultaten?
Die Befragung macht sichtbar, wie gross die Breite und Komplexität innerhalb der Bevölkerung ist. Nun müssen wir im Gespräch mit den Gemeinschaften herausfinden, wo wir Schwerpunkte setzen, welche Themen dringender sind als andere. Darum haben wir eine Fachgruppe einberufen, die im Herbst erstmals zusammenkommt. Dazu gehören Fachpersonen, die ein grosses Wissen über ihre eigene Gemeinschaft und über religionspolitische Fragen im Allgemeinen haben.
In der Medienmitteilung des Kantons heisst es: «Weiter sollen strukturelle Ungleichbehandlungen zwischen Angehörigen unterschiedlicher Religionen schrittweise identifiziert, analysiert und reduziert werden.» Was heisst das?
Das ist ein bemerkenswerter Satz! Der Regierungsrat anerkennt damit, dass es diese Ungleichbehandlung gibt. Eine Reduktion derselben könnte bedeuten, dass alle Bewohnenden und Insass:innen öffentlicher Institutionen wie Altersheime, Spitäler, Gefängnisse auf eine religiöse Begleitung von einer Person ihrer Religionszugehörigkeit bekommen, die über eine entsprechende Ausbildung verfügt. Zum Beispiel soll eine tamilische Person während dem Sterbeprozess einen Hindupriester beiziehen können und dieser soll dafür eine Entschädigung erhalten. Es braucht eine Anerkennung für eine so wichtige und unter Umständen auch belastende Aufgabe.
Die öffentlich-rechtlich anerkannten Landeskirchen haben diesen Frühling beim Kanton einen Bericht über ihre gesamtgesellschaftlichen Leistungen eingereicht. Was steht da drin?
Die Landeskirchen haben ihre Berichte eingereicht, auf Basis dieser Berichte werden nun Gespräche über die nächste Finanzierungsperiode geführt. Die Berichte sind beeindruckend und zeigen eine grosse Vielfalt an Leistungen auf, die erbracht werden. Ich nehme an, dass die Landeskirchen nach den Gesprächen diese Berichte publik machen werden.
Besteht die Gefahr, dass die Landeskirchen in der nächsten Finanzierungsperiode weniger Geld bekommen, weil solches auch für privatrechtlich organisierte Religionsgemeinschaften verwendet wird, die ebenfalls gesamtgesellschaftliche Leistungen erbringen?
Das kann ich so nicht bestätigen. Die Landeskirchen erhalten Geld für gesamtgesellschaftliche Leistungen. Darunter fällt alles, was nicht den Kultus betrifft, also soziale und kulturelle Leistungen sowie Bildung. Andere Gemeinschaften, die vom Staat kein Geld bekommen, erbringen ebenfalls Leistungen im gesamtgesellschaftlichen Interesse. Die Politik muss sich daher schon der Frage stellen, wie diese Ungleichbehandlung in Zukunft reduziert werden kann.
*David Leutwyler ist Beauftragter für kirchliche und religiöse Angelegenheiten beim Kanton Bern.
Infobox:
Nebst den drei Landeskirchen und der jüdischen Gemeinde gibt es im Kanton Bern über 300 weitere Religionsgemeinschaften. Knapp die Hälfte sind christliche Freikirchen, dazu kommen muslimische, hinduistische, buddhistische und andere Gemeinschaften. 223 von ihnen (68 Prozent) haben an der anonymisierten Online-Umfrage des Kantons teilgenommen.