Bis Ende 2024 sei eine nationale Meldestelle für Missbrauchsbetroffene eingerichtet. Das sagte Bischof Joseph Maria Bonnemain am 12. September. Sechs Monate später rudern die Kirchenoberen zurück: zu kompliziert, zu wenig Personal. Jacqueline Fehr und Sandra Müller sehen das anders: Dank des Opferhilfegesetzes seien alle Strukturen vorhanden.
von Annalena Müller
«Wir brauchen keine Stelle, an der eine Meldung platziert wird und dann nichts passiert. Wir brauchen eine Anlaufstelle. Einen Ort, an dem man Betreuung bekommt – psychologisch und rechtlich», sagt Vreni Peterer von der «IG MikU». National organisiert müsse die Stelle sein, aber mit Vertretungen in jedem Kanton, fordert auch Jacques Nouffer von der Westschweizer «Groupe SAPEC». Niederschwellig zu erreichen, einheitlich strukturiert, unabhängig und das Personal mit dem nötigen Wissen ausgestattet, das fordern Betroffenenvertreter in der Deutsch- und Westschweiz.
Was vielen in der Kirche nicht bewusst ist: Die geforderten Strukturen existieren seit 30 Jahren, organisiert und finanziert vom Staat. Ob die Kirche darauf aufbaut, ist aktuell offen.
Der Wald vor lauter Bäumen
Eine nationale Anlaufstelle, an der Betroffene Zugang zu Betreuung erhalten: Was naheliegend klingt, stellt die Schweizer Kirche vor Herausforderungen. Bei der Schweizer Bischofskonferenz (SBK) und der Römisch-Katholischen Zentralkonferenz der Schweiz (RKZ) scheint man sich darauf einzustellen, dass die von Joseph Maria Bonnemain für Ende 2024 versprochene Einrichtung «kaum zu realisieren» sei. Zu hoch seien die Hürden, zu dünn die Personaldecke. Zu bedenken seien komplexe Datenschutzfragen, kantonale Unterschiede, sowie die hohen Erwartungen der Betroffenen und der Öffentlichkeit. Am Samstag deutete Joseph Maria Bonnemain ebenfalls an: Es könnte zu Verzögerungen kommen. An der Vollversammlung der Betroffenenorganisation IG Missbrauch wollte sich der Churer Bischof auf keinen genauen Zeitpunkt festlegen.
Sandra Müller, Leiterin der Kantonalen Opferhilfestelle Zürich, schätzt die Lage anders ein. Gegenüber kath.ch erklärt sie, die Kirche müsse das Rad nicht neu erfinden, sondern könne die im Rahmen des Opferhilfegesetzes aufgebauten Strukturen verwenden. Auch die Zürcher Regierungsrätin Jacqueline Fehr (SP) hält eine Anlaufstelle unter diesen Voraussetzungen bis Ende Jahr für möglich.
Keine kirchlichen Parallelstrukturen
Die Strukturen der Opferhilfe seien vorhanden. Das spezifische Fachwissen um die kirchliche Situation könne und solle die Kirche liefern. Von einer rein kirchlichen Anlaufstelle halten Fehr und Müller wenig. «Wir von der Opferhilfestelle haben den Standpunkt, dass man eine Parallelstruktur unbedingt vermeiden solle», sagt Sandra Müller gegenüber kath.ch. Auch sei der Aufbau einer solchen innert Jahresfrist in der Tat unmöglich.
Wie könnte das Andocken an die staatliche Opferhilfe konkret aussehen? Sandra Müller erklärt: Von Seiten der Kirche bräuchte es designierte Ansprechpersonen, die über das kirchenrechtliche und strukturelle Wissen verfügen. Mitarbeitende der Beratungsstellen sollten instruiert werden und wissen, an wen sie sich wenden können, um spezifische Fragen, die kirchliche Besonderheiten betreffen, zu besprechen.
es Weiteren wäre ein Grundtraining der Mitarbeitenden der Opferberatungsstellen in Sachen «Kirche und ihre Strukturen» sinnvoll und, falls nötig, eine Aufstockung des Personals. Training und Finanzierung könnte ebenfalls die Kirche leisten. Schliesslich müsste die Kirche für die Kommunikation sorgen. Also bekannt machen, dass sich Missbrauchsbetroffene an Opferberatungsstellen in den Kantonen wenden können und ihnen dort alle Ressourcen samt Fachwissen zur Verfügung stünden. «Das sollte in den Grundzügen alles bis Ende Jahr realisierbar sein», bestätigen Fehr und Müller unabhängig voneinander.
Opferhilfegesetz
Die staatliche Opferhilfe ist das Resultat des Opferhilfegesetzes (OHG), das seit 1993 in Kraft ist. Seither hat jede Person Anspruch auf Unterstützung, die in der Schweiz durch eine Straftat in ihrer körperlichen, psychischen oder sexuellen Integrität beeinträchtigt worden ist. Diese Unterstützung umfasst Beratung und Soforthilfe. Aber auch Kostenbeiträge für längerfristige Unterstützung zum Beispiel für medizinische, psychologische, soziale, materielle und juristische Hilfe. Die Kirche könnte auf diesen Strukturen aufbauen und zusätzliches Personal finanzieren.
Diese Möglichkeit sieht auch Sandra Müller. «Selbstverständlich stehen die Opferberatungsstellen bereits heute Missbrauchsbetroffenen aus dem kirchlichen Umfeld zur Verfügung», sagt Müller. Was den Beratungsstellen aktuell fehle, seien Fachkenntnisse des spezifisch-kirchlichen Umfeldes und gegebenenfalls zusätzliches Personal, das die Bearbeitung der Mehrfälle sicherstellen kann. «Von der Kirche habe ich Signale empfangen, wonach dies möglich sein sollte», so Müller.
Über den aktuellen Stand der Planung auf kirchlicher Seite ist die Leiterin der Opferhilfestelle Zürich nicht informiert. «Zuständig für die Weiterbearbeitung des Themas auf Seiten der Opferhilfe sind die Kantone. Ich habe Herrn Loppacher daher an die Opferhilfekonferenz verwiesen. Dort werden wir Anfang April diskutieren, wie eine Zusammenarbeit konkret aussehen könnte».
Nächste Runde im April
Auf Anfrage von kath.ch bestätigt Stefan Loppacher den Termin. Weitere Auskünfte könne er als Leiter der Arbeitsgruppe «Aufarbeitung Missbrauch» aktuell nicht geben. «Die momentan laufenden Arbeiten werden im März in den leitenden Gremien der SBK, der RKZ und der KOVOS beraten. Entscheidungen zur Umsetzung sind noch nicht vorgesehen. Wir werden im Mai ein Werkstattgespräch für Medien anbieten und in diesem Rahmen im Detail über den Stand der Umsetzung aller angekündigten Massnahmen informieren», schreibt Loppacher.
Diözesaner Flickenteppich
Um die Ausgangsposition auf kirchlicher Seite zu verstehen, hilft ein Blick in die aktuellen Meldestrukturen der diözesanen Fachgremien. «Die Fachgremien funktionieren in jedem Bistum anders», sagt Angelica Venzin, Präsidentin des Churer Fachgremiums.
Das Bistum Chur sei in drei Bistumsregionen – Graubünden, Innerschweiz und Zürich – unterteilt. Pro Region gebe es zwei Ansprechpersonen, die auf der Webseite ausgewiesen sind und kontaktiert werden können. Das Gremium selbst bestehe aus Fachpersonen verschiedener Disziplinen, unter anderem Recht und Psychologie. Die Aufgabe des Gremiums sei es, abzuklären, wie mit einer Meldung umzugehen ist. «Ist es ein Fall für die Genugtuungskommission oder die Staatsanwaltschaft? Müssen gegebenenfalls kirchenrechtliche Schritte unternommen und der Bischof informiert werden?»
Im Bistum Basel ist die Anwältin Christine Hess-Keller die Koordinationsperson. Die Kommunikationsbeauftragte des Bistums, Barbara Melzl, erklärt auf Anfrage: «Die Surseer Anwaltskanzlei Hess Advokatur AG ist die offizielle unabhängige Meldestelle für sexuelle Übergriffe im Bistum Basel. Die unabhängige Koordinationsperson dieser Meldestelle ist beauftragt, Meldungen von mutmasslichen sexuellen Übergriffen entgegenzunehmen und setzt sich dafür ein, dass ein Vorfall vollständig geklärt wird.» Das Basler Fachgremium befasst sich selbst nicht direkt mit Meldungen, aber Christine Hess-Keller sei Mitglied des Fachgremiums, erklärt Melzl.
Unabhängigkeit unmöglich
Ähnlich wie in Chur ist in St. Gallen das Fachgremium auch Anlaufstelle. Mit zwei Ansprechpersonen ist das kleine Bistum gut aufgestellt. Regula Sarbach war von November 2021 bis Januar 2024 Mitglied des Gremiums. Gegenüber kath.ch benennt sie den zentralen Schwachpunkt einer innerkirchlichen Lösung.
Selbst bei bester Intention sei wirkliche Unabhängigkeit unmöglich. Zwar unterliegen die Fachgremien einer Schweigepflicht, deren Strenge könne jedoch nicht analog zu der der Opferhilfestellen gewährleistet werden. Problematisch wird es vor allem, wenn Meldungen aktuelle Mitarbeitende betreffen, so Sarbach.
Meldepflicht und Beratung trennen
Gemäss der seit 2019 geltenden Selbstverpflichtung der Bischöfe muss jede im Bistum eigehende Meldung zur Anzeige gebracht werden. Dieser Schritt sei ohne Frage richtig und wichtig, um Vertuschung vorzubeugen, so Sarbach. Aber Meldepflicht und Betroffenenberatung müssten strikt getrennt sein. Nicht alle Betroffenen wollen, dass ihr Fall an Strafverfolgungsbehörden oder kirchliche Instanzen gemeldet wird. Manche suchen die Anlaufstellen auf, weil sie Beratung wünschen oder weil sie ihren Anspruch auf Genugtuung geltend machen wollen. «Vielen geht es in erster Linie darum, endlich das Schweigen zu brechen und ihre Erfahrung in die historische Aufarbeitung einfliessen zu lassen.»
Wenn Fachgremien aber ihren Bischof informieren müssen und dieser jede Meldung zur Anzeige bringen muss, entstehe daraus ein Automatismus, der von einigen Betroffenen dezidiert nicht gewollt sei. Sarbach plädiert daher für eine Separierung der Anlaufstellen von kirchlichen Strukturen.
Kontrolle über eigene Geschichte behalten
Die Kontrolle, was mit der eigenen Geschichte passiere, müsse bei den Betroffenen liegen, weiss auch Sandra Müller von der Opferhilfe Zürich. Im Falle einer Zusammenarbeit mit der Opferhilfe wäre dies gewährleistet. Weshalb eine Zusammenarbeit mit der staatlichen Opferhilfe nicht bereits früher Thema war, können Sandra Müller und Jacqueline Fehr nicht beantworten.
Nicht von der Hand zu weisen ist, dass der Staat dank des Opferhilfegesetzes die nötigen Strukturen hat. Auch Vreni Peterer findet, dass es externe Kontrollen braucht. Die Strukturen vom Staat und spezialisiertes Personal bezahlt von der Kirche, «das erscheint mir eine Möglichkeit, welche Unabhängigkeit sichert.» Ob die Kirche darauf zurückgreift, ist aktuell offen. Auf den Medien-Termin im Mai der Arbeitsgruppe «Aufarbeitung Missbrauch» darf man jedenfalls gespannt sein.
Serie: Wo stehen wir?
Bisher erschienen:
Missbrauchsaufarbeitung: Wer hat die Schlüssel zum Archiv der Nuntiatur? 8. März 2024