Ottla (rechts) und Franz Kafka in Prag. Foto: Heritage Image Partnership Ltd/Alamy

Ottla Kafka, die kleine grosse Schwester

Von ihrem Bruder weiss man viel, von der hingebungsvollen und selbständigen Ottla Kafka wenig.

Von ihm, Franz Kafka, weiss man viel, von ihr wenig. Wer war diese Frau, die hingebungsvoll und selbstständig zugleich handelte?

Von Beatrice Eichmann-Leutenegger

Bilder aus glücklichen Tagen: Ottla mit ihrem Bruder vor dem Gutshof Zürau, Ottla mit ihrem Mann und den Töchtern Vera und Helena beim Skifahren in der Hohen Tatra. Dann aber das Foto von Frauen und Kindern im Wald, und schaut man näher hin, entdeckt man den Stern auf dem Mantelkragen. Vermerk: «Vor dem Tod in der Gaskammer». In den «Wohnungen des Todes» (Nelly Sachs) endet Ottlas Leben wie jenes ihrer Schwestern Elli und Valli.

Die Bilder finden sich im Buch von Petr Balajka (*1958), einem Prager Autor und Redakteur. Er hat seinen Text mit Aussagen Überlebender des Holocaust, Zitaten aus Kafkas Briefen an seine Schwester sowie Teilen aus jenem Interview durchsetzt, das er mit Kafkas Nichte Vera kurz vor deren Tod (2015) führte. Ebenso fügt er fiktive Szenen in Theresienstadt ein, die jedoch nah bei der Lager-Realität liegen. Ottla (eigentlich: Ottilie), die Lieblingsschwester des Dichters, erscheint als schlichte, unverfälschte Frau, deren Wesen überraschende Ähnlichkeit mit jenem Dora Dymants zeigt, Kafkas letzter Geliebter. Dass er bei beiden Frauen ihre Wahrhaftigkeit und Natürlichkeit schätzte, wirft ein Licht auf ihn selbst und lässt seine schlackenlose Sprache neu begreifen.

Am 29. Oktober 1892 wird Ottla in Prag geboren, neun Jahre nach der Geburt ihres Bruders. Sie, ein Wildfang, hilft nach dem Besuch der Volksschule im Galanteriewarengeschäft des Vaters Hermann Kafka. Aber wie Franz, der 1919 den «Brief an den Vater» geschrieben (aber nie abgeschickt) hat, rebelliert die eigensinnige Ottla als einzige der drei Töchter gegen die polternde väterliche Autorität. 1916 mietet sie mit ihrem Bruder ein Häuschen im Goldenen Gässchen und leistet 1917/18 harte Arbeit auf dem westböhmischen Bauernhof ihres Schwagers in Zürau, einem Provinznest ohne jeden Komfort, melkt Ziegen, mistet den Stall aus und bestellt mit Franz, der das Pferdefuhrwerk leitet, den Gemüsegarten. Acht Monate weilt er bei ihr, da er auf dem Land seine im August 1917 ausgebrochene Tuberkulose zu kurieren hofft. Glücklich ist er wie selten. Er unterstützt finanziell Ottlas Ausbildung an der Landwirtschaftsschule in Friedland (1918/19), denn als Einzige der Schwestern bestimmt sie ihren Berufsweg selbst. Ebenso lehnt sie den jüdischen Heiratsvermittler ab und setzt 1920 ihre Heirat mit dem Christen Josef David durch. Die Verbindung ist nicht spannungsfrei: hier der angepasste Jurist Josef, dort die unkonventionelle, emotionale Ottla, die sich für Menschen am Rand einsetzt.

1921 kommt Vera auf die Welt, die als Sportlehrerin, Lektorin und Übersetzerin tätig sein wird, 1923 Helena, die spätere Ärztin. Zu den Nichten pflegt Kafka eine zärtliche Beziehung. Noch als Schwerkranker in Berlin bittet er Ottla um ein «paar kleine Geschichten über Vera» und schreibt am 8. Oktober 1923: «Wenn mich alles in der Welt stören würde – fast ist es so weit –, Du nicht.» Zu ihrem Geburtstag am Monatsende würde er gern eine Wanne aufstellen, mit Milch gefüllt, auf der Gurkenscheiben schwimmen. Dazu ringsherum Kabinen aus Schokolade …

Unermüdlich springt Ottla für ihn ein, erledigt Botengänge, übersetzt Briefe ins Tschechische, spricht beim Direktor der «Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt» vor, um Urlaube und die vorzeitige Pensionierung für den kranken Bruder zu erwirken. «Ottla trägt mich wirklich auf ihren Flügeln aus der misslichen Welt», gesteht Kafka. Im Mai 1924 sehen sich Bruder und Schwester ein letztes Mal im Sanatorium Kierling im Wienerwald.

Jahre später will sie ihren Ehemann vor Repressalien der Nazis wegen seiner «Mischehe» schützen und trennt sich 1940 von ihm. Am 3. August 1942 wird Ottla nach Theresienstadt verschickt, wo sie, «der Kapitän», eine Knabengruppe leitet. Privilegien als Schwester des Dichters beansprucht sie nicht. 1943 trifft ein Transport mit 1200 Kindern in erbärmlichem Zustand aus dem polnischen Ghetto Bialystok ein, und sie meldet sich zur Betreuung. Es heisst, diese Kinder würden im Austausch gegen deutsche Kriegsgefangene nach Schweden, in die Schweiz oder nach Palästina weiterreisen, aber die Verhandlungen verlaufen im Sand. Balajka erhellt dieses Kapitel mit Daten und Fakten, ohne die Hintergründe klären zu können.

Wie der polnische Arzt und Pädagoge Janusz Korczak begleitet Ottla «ihre» Kinder am 5. Oktober 1943 nach Auschwitz. Der Todestag, 7. Oktober, fällt auf den Vorabend des höchsten jüdischen Feiertags, Jom Kippur. Nach Kriegsende wartet Vera täglich am Wilson-Bahnhof auf die Rückkehr der Mutter.

 

Buchtipp:

Petr Balajka, Ottla Kafka. Das tragische Schicksal der Lieblingsschwester Franz Kafkas. Deutsch von Werner Imhof, Verlag tredition, 2019.

 

 

 

 

 

 

 

 

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